KURIER: Herr Neuhold, Herr Kaltenbrunner, Sie schreiben, dass Sie für Ihr Buch tief in islamistische Parallelwelten eingetaucht sind. Was haben Sie dort vorgefunden?
Neuhold: Ein fundamentalistisches Weltbild, das im deutschsprachigen Raum Hunderttausende Jugendliche erreicht. Unser alarmierender Befund ist, dass Online-Salafismus in Teilen der muslimischen Jugend Mainstream geworden ist.
Kaltenbrunner: Der radikale Islam ist auf Tiktok weitgehend Normalität. All das, was wir uns als westliche Gesellschaft erarbeitet haben – von Frauenrechten bis Minderheitenrechten – wird von Hasspredigern wieder infrage gestellt oder pauschal abgelehnt.
Die Ablehnung liberaler Werte als zentrale Botschaft also?
Kaltenbrunner: Diese Islamisten gehen in Frontalopposition zu westlichen Demokratien und treiben einen Keil zwischen junge Muslime und die Gesellschaft. Sie hetzen junge Muslime in Europa auf und drängen sie, sich vom ungläubigen und sündigen „Westen“ abzuwenden.
Neuhold: Die von Menschen gemachten Gesetze akzeptieren sie nicht, weil Regeln nur von Allah kommen können. Die Scharia steht für sie über allem.
Wie gelingt es den islamistischen Influencern, mit diesen Inhalten so viele Jugendliche zu erreichen?
Neuhold: Sie haben nichts mehr zu tun mit den alten, bärtigen Scheichs in Hinterhofmoscheen. Sie sind hip und cool und sprechen die Sprache der Jugend. Sie erzeugen ein wohliges Gemeinschaftsgefühl. Man fühlt sich als wahrer Gläubiger und Teil der Umma – der weltweiten Gemeinschaft der Muslime. Sie arbeiten manipulativ mit dem positiven Bezug der Jugendlichen zur eigenen Religion.
Kaltenbrunner: Ihre Videos sind einfach zu verstehen und oft aufwendig produziert wie Netflixserien. Ihre Hauptmasche sind simple Antworten auf alle Fragen des Alltags, die Jugendliche beschäftigen. Sie suggerieren, dass der Islam alle Probleme löst. Der Islam wird zum Lifestyle und als Abgrenzung zu den Ungläubigen verkauft. Das gibt den Jugendlichen eine eigene Identität.
Neuhold: Das Problem ist, wenn sie religiöse Antworten auf ihre Sinnfragen nicht in anerkannten Moscheen suchen, sondern über das Handy direkt zu den Radikalen abbiegen.
Wo erfolgt dann der Aufruf zur Gewalt?
Neuhold: Tiktok ist die Einstiegsdroge. Was die Online-Salafisten verbreiten, ist meist gerade noch legal. Sie wissen meist genau, wo die Grenze zum Strafrecht verläuft. Doch sie bereiten damit den Nährboden für die Radikalisierung auf.
Kaltenbrunner: Wirklich gefährlich wird es für Jugendliche, wenn sie von Tiktok in geheime Chats auf Messenger-Diensten gelotst werden.
Ich nehme an, Sie waren auch dort?
Kaltenbrunner: Ja. Bei einem Selbstversuch mit Fake-Profil. In den sozialen Medien sind Scouts unterwegs, die einschlägige Kommentare unter den Videos suchen und die Absender in viel dünklere Kanäle auf Telegram & Co. einladen. Dort sieht man dann die wirklich harten Sachen wie Hinrichtungsvideos und Aufrufe zum bewaffneten Kampf. Dort passiert die finale Radikalisierung.
Wer verbirgt sich hinter diesen Scouts?
Kaltenbrunner: Die Scouts sind von Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat oder Al Kaida. Was sie so gefährlich macht: Sie können auch von Kabul, Grozny oder Islamabad aus agieren und sind für die Behörden dadurch nicht greifbar.
Neuhold: In der Covid-Pandemie mit ihren Lockdowns haben Terrororganisationen ihre Rekrutierung übers Internet enorm verstärkt und professionalisiert. Die islamistische Welle baute sich insgesamt auf allen Kanälen auf. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde aus der Welle ein Tsunami des Hasses gegen Juden und den Westen.
Driften vor allem männliche Muslime in diese Ideologie ab?
Kaltenbrunner: Nein. Verstärkt auch Mädchen und junge Frauen. In den sozialen Medien gibt es so etwas wie einen Fashion-Islam, bei dem perfekt geschminkte Frauen das Kopftuch bewerben und dazwischen ihr streng islamisches Weltbild zelebrieren. Diese Kopftuch-Influencerinnen haben Millionen Zugriffe. Sie geben Anleitungen, was für eine echte Muslima erlaubt oder verboten ist.
Neuhold: Das ist eine schleichende Islamisierung, die ihre Spuren im Straßenbild hinterlässt, in Gestalt tief verschleierter Mädchen. Man braucht nur bei Schulschluss vor einer sogenannten “Brennpunktschule“ stehen.
Nach den jüngsten Anschlägen bzw. Anschlagsversuchen gibt es eine Reihe von Maßnahmenforderungen. Was davon macht tatsächlich Sinn?
Kaltenbrunner: Eine unserer Forderungen im Buch ist es, Tiktok unter 14 Jahren zu verbieten. Man kann das mit dem Jugendschutz argumentieren. Bei uns darf sich theoretisch ein Unter-Zwölfjähriger keine „Tatort“-Folge wegen zu viel Gewalt anschauen. Aber wenn er sich IS-Hinrichtungsvideos auf Tiktok ansieht, bleibt das ohne Konsequenzen. Das passt einfach nicht zusammen. Auch das Mediengesetz sollte für soziale Medien gelten.
Wie sieht es mit der umstrittenen Messenger-Überwachung aus? Im Fall des Villacher Attentäters hätte es ja nichts gebracht. Er hat sich radikalisiert, ohne mit jemandem darüber zu chatten.
Neuhold: Nach dem jetzigen Ermittlungsstand wäre eine Früherkennung tatsächlich schwierig gewesen. Aber bei Beran A., der das Attentat auf das Taylor-Swift-Konzert geplant haben soll, gab es Leute in seinem Umfeld, die im Visier der Behörden standen. Mit einer Messenger-Überwachung hätte man ihn womöglich früher auf die Schliche kommen können.
Kaltenbrunner: Der österreichische Staatsschutz muss derzeit 650 radikale Islamisten überwachen, weil von ihnen Terror ausgehen könnte. Die Dunkelziffer an Sympathisanten ist noch höher. Deswegen braucht es neue Werkzeuge.
Zum Beispiel?
Kaltenbrunner: Wir müssen mit der Show-Politik aufhören. Ein Kreuz im Klassenzimmer löst keine Integrationsprobleme. Diese Jugendlichen gehören zu uns und wir müssen alle in die Pflicht für Lösungen nehmen: Lehrer, Politiker, NGOs, Eltern, die muslimische Community.
Neuhold: Wenn Islam-Vertreter sagen, das Ganze hat nichts mit dem Islam zu tun, dann stimmt das nicht. Islamismus hat mit dem Islam zu tun. Moscheeverbände müssen sich stärker davon distanzieren und eine lautere Gegenstimme zu Hass-Predigern sein. Auch oder gerade auf sozialen Medien. Derzeit prägen salafistische Prediger auf Tiktok & Co. das Bild des Islam, nicht liberale Muslime. Dieses Versäumnis der letzten Jahrzehnte müssen wir wieder gerade rücken. Sonst bekommen wir das nicht mehr in den Griff.
Kaltenbrunner: Wir müssen uns fragen, wie es sein kann, dass ein 14-Jähriger in unserer aufgeklärten Gesellschaft zum Westbahnhof fahren will, um dort Leute niederzustechen, damit er ins Paradies kommt. Als ich 14 Jahre alt war, galt es als Mutprobe, die Sonntagszeitung zu stehlen.
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