Aktuelle Mordfälle: Soziale Medien als Gewaltverstärker
„Bald kann man nur noch mit einer schusssicheren Weste vor die Tür gehen“, lautete nur einer von vielen emotionalen Leserkommentaren zum Bericht rund um die Gewalttat am Dienstagabend in Wien-Meidling. Dort soll ein Bosnier (53) seine Ex-Freundin (48) mit einem Kopfschuss schwer verletzt haben. Der Mann richtete sich danach selbst (siehe unten).
Öffentlich wurde der Fall zunächst durch Fotos und Videos in sozialen Netzwerken, in denen viel über den Tathergang spekuliert wurde. Bis Polizei und Medienvertreter gesicherte Informationen veröffentlichen konnten, dauerte es aber knapp eine Stunde.
Empörungskultur
Solche nutzergenerierten Inhalte setzen klassische Medien laut Experten zusehends unter Druck. Durch die Digitalisierung kann jeder Reporter sein und Nachrichten – egal, ob wahr oder falsch – der Öffentlichkeit kundtun.
Laut Petra Herczeg, Kommunikationswissenschaftlerin an der Uni Wien, hat sich die Rolle der Journalisten dadurch in den letzten Jahren stark verändert. Vom sogenannten „Gatekeeper“ – also dem Torhüter, der kontrollieren kann, welche Inhalte wann an die Öffentlichkeit gelangen – könne keine Rede mehr sein.
„Die große Herausforderung für den Journalismus ist es, professionell zu agieren und einen Gegenpart gegen die Empörungs- und Aufregungsbereitschaft zu setzen“, sagt Herczeg. „Gleichzeitig beobachten wir, dass Journalisten selbst Teil der Empörungskultur sind, der es weniger um Fakten und Orientierung geht als um Emotionen.“
Durch die Kommentare, die im Internet veröffentlicht werden, entstünden Diskussionen, die oft in politischen Extremen enden. Gewalttaten würden instrumentalisiert. Das „subjektive Sicherheitsgefühl“ ist ein von Politikern viel bemühter Ausdruck. „Gewalt ist natürlich ein klassisches Thema, das sich sehr gut für unterschiedliche Instrumentalisierungen durch Politik und Öffentlichkeit eignet. Bei aller Furchtbarkeit der Taten hat es einen hohen Erregungs- und Emotionalisierungsgrad. Da kann sich guter Journalismus bewähren, indem eben nicht reflexartig emotionalisierend berichtet wird, sondern faktenorientiert“, sagt Herczeg.
Ein Problem sei es, dass Medienkonsumenten die Qualität von Nachrichten nur schwer einschätzen können, wie es Studien belegen. Dadurch bestehe die Gefahr, dass manipulative und populistische Inhalte mit professionellem Journalismus verwechselt werden: „Ich glaube, dass ein Bewusstseinswandel notwendig ist, und dass Rezipienten verstärkt Medienkompetenzen erwerben müssen, um qualitativen Journalismus schätzen zu können.“
Zahlen und Fakten
In diesem Jahr wurden in Österreich sieben Frauen getötet, die mit dem Verdächtigen in einer Liebesbeziehung oder in einem familiären Verhältnis standen. Der klassische und viel zitierte „Frauenmord“ mit einem unbekannten Täter wurde nicht verübt. Auch sonst gibt es wenig Parallelen, meinen Polizisten und Experten. Über der Norm ist allerdings der Einsatz von Messern.
Laut Kriminalstatistik wurden in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich knapp fünf Morde pro Monat begangen. Da die Tötung eines Bosniers durch seine Ehefrau vermutlich Totschlag oder Notwehr war und aus der Statistik herausfallen wird, gab es bisher in sechseinhalb Wochen neun Mordfälle – das ist nur leicht über dem langjährigen Durchschnitt. Auch wenn das subjektive Gefühl vieler Menschen ein ganz anderes ist.
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