Das rätselhafte Verschwinden von Marianne Schmid
Die Hölle beginnt immer mit einem Anruf. Isabella schaut auf das Handydisplay und ihr Gefühl sagt ihr, da ist etwas passiert. Dass es sich dabei um die größte Katastrophe ihres Lebens handeln wird, das kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen. Denn ab nun wird Isabella mehr Leid ertragen müssen, als einem Menschen zumutbar ist. Als einer liebenden Tochter zumutbar ist.
„Ja, hallo?“
„Ihre Mutter. Sie ist weg. Sie ist weggegangen. Wir können sie nicht finden.“
Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung ist aufgeregt. Hektisch. Fast panisch. Isabella braucht einige Minuten, um zu verstehen, was die Pflegerin am Telefon gerade zu ihr gesagt hat. Dann sinkt die kleine, hagere Frau in sich zusammen. Sie muss sich setzen. Der erste Weinkrampf.
Der Tag des Verschwindens für Tochter Isabella
Es ist der 19. Mai 2017. Ein warmer Frühlingstag, die Sonne strahlt seit den frühen Morgenstunden durch die Terrassentüre herein. Die damals 82-jährige Marianne Schmid sitzt im Wohnzimmer auf der Couch. Von hier aus kann sie in den großen, wunderschönen Garten sehen, den sie so liebt. Ganz hinten auf dem kleinen Hügel steht ein großer, alter Baum. Darunter eine Holzbank. Hühner gackern vor sich hin.
Wie immer stellt Isabella die morgendliche Kaffeetasse vor ihrer Mutter ab. Marianne Schmids Blick ist starr, dann lächelt sie wieder verträumt vor sich hin. Die kinnlangen Haare sind rot gefärbt. Ihr Äußeres ist ihr bis ins hohe Alter besonders wichtig. Man bräuchte bei Marianne und Isabella nicht erwähnen, dass sie Mutter und Tochter sind, so offensichtlich ist ihre Ähnlichkeit.
Sie wohnen Tür an Tür, hier in der niederösterreichischen Gemeinde Drasenhofen. Der Garten verbindet die zwei Bauten und wird von der gesamten Familie genützt. Das alte Bauernhaus der Mutter ist seit vielen Jahrzehnten im Familienbesitz.
Jeden Tag verbringen Marianne und Isabella Zeit miteinander. Die Beziehung war immer intensiv, seit Marianne Schmid im Jahr 2012 die Alzheimerdiagnose erhalten hat, kümmert sich Isabella jedoch unentwegt um ihre Mutter.
Isabellas Ehemann ist im Mai 2017 auf einem Reha-Aufenthalt in Salzburg. Sie beschließen, dort einen Urlaub zu zweit anzuhängen. Die Zeit zu zweit ist nämlich sehr rar geworden, die Pflege der Mutter nimmt viel Energie in Anspruch und diese freien Tage, die braucht es, um wieder Kraft zu tanken.
Damit für Marianne Schmid auch in dieser Zeit gut gesorgt wird, hat sich die Familie dazu entschieden, sie kurzzeitig im Pflegewohnhaus in Laa an der Thaya unterzubringen. Unter der Bevölkerung ist es landläufig als Vitusheim bekannt. Die Einrichtung genießt den besten Ruf in der Gegend.
Schon mehrere Male war Marianne Schmid dort kürzer oder gar nur tageweise untergebracht. Freilich wäre sie am liebsten immer bei der Familie gewesen, aber sie hat verstanden, dass auch die Tochter und der Schwiegersohn ab und zu eine kleine Auszeit brauchen.
Am 19. Mai 2017 setzt Isabella ihre Mutter nach dem morgendlichen Kaffee ins Auto. Wenn Isabella erzählt, dass die beiden auf der Fahrt geplaudert haben, dann meint sie, dass ihre Mutter in erster Linie zugehört und ab und zu genickt hat, denn Marianne Schmid war zu diesem Zeitpunkt schon gezeichnet von der Demenzkrankheit.
Ihr Sprachverfall ist schlimmer geworden, ganze Sätze sind nicht mehr möglich. Aber zuhören, verstehen und brüchig antworten, das geht.
Die Fahrt ins Vitusheim
Als Isabella etwas später an diesem Tag in Salzburg aus dem Zug steigt, ist sie bei bester Laune. Sie freut sich auf zwei Wochen Urlaub. Sie freut sich aber auch schon sehr auf die Zeit danach. Denn eine Hochzeit steht an. Ihr Bruder wird heiraten. Die ganze Familie wird zusammenkommen.
Gerade hat sie am Bahnhof noch mit einer ihrer Schwestern telefoniert, die in Wien lebt und erzählt, dass es „der Mama“ heute gut geht und die Ankunft im Pflegewohnhaus problemlos funktioniert hat. Man kann es drehen und wenden, wie man möchte. Ein bisschen Schuldgefühl und Sorge begleiten diese Zeit jedes Mal. Aber es ist die beste Lösung. Mutter ist dort gut aufgehoben.
Zwei Tage später
Es ist Sonntag, der 21. Mai 2017. Isabella und ihr Mann stehen gerade am Fuße des Mönchsbergs in Salzburg. Gleich wollen sie die Aussicht von oben genießen. Isabella holt ihr Handy aus der Tasche, will ein Selfie machen und es an Freunde und Familie schicken.
Auf dem Display sieht sie mehrere Anrufe in Abwesenheit. Das Vitusheim. Isabella sagt, dieses Gefühl kann sie heute kaum beschreiben. Das Gefühl, wenn du weißt, gleich kommt diese Nachricht, dass etwas Schlimmes passiert ist. Doch jetzt gerade, da ist alles noch gut. Aber deine Welt wird gleich eine andere sein.
Isabella versucht, Fassung zu bewahren. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt verzweifelt. „Wir suchen seit zwei Stunden nach Ihrer Mutter. Wir haben schon das ganze Haus abgesucht, wir können sie nicht finden. Wir haben die Polizei informiert.“ Damit hat Isabella nicht gerechnet. Sie dachte an einen Sturz. Dass ihre Mutter sich schwer verletzt hätte.
Aber verschwunden?
Es ist 14.15 Uhr. Isabella setzt sich schluchzend auf die Stufen, die hinauf zum Mönchsberg führen. Ihr Mann umarmt sie. „Die werden sie finden.“ Als sie sich gefangen hat, ruft sie ihre Geschwister und ihren Sohn an. Die ganze Familie fährt sofort nach Laa an der Thaya, um nach Marianne Schmid zu suchen.
Isabella ist noch nicht fähig, in ein Auto zu steigen. Sie steht unter Schock. Dreihundert Kilometer weit weg zermartert sie sich ihren Kopf. Mutter und Weggehen? Das hat sie noch nie gemacht. Das passt nicht zu ihr. Aber wenn doch, wohin? Nach Hause? Was, wenn ihr etwas passiert ist und sie dringend Hilfe braucht? Oder noch schlimmer...Isabella verwirft den letzten Gedanken sofort. Nein, sie werden Mutter bestimmt finden.
Wer ist Marianne Schmid?
Marianne Schmid wurde 1935 in Nikolsburg, dem heutigen Mikulov in Tschechien, geboren. Sie und ihr Zwillingsbruder waren die jüngsten Kinder der Familie, nach zwei älteren Brüdern. Ihre Eltern führten einen großen Landwirtschaftsbetrieb und ein Fuhrwerksgewerbe. Sie hatte eine vorerst unbeschwerte Kindheit, dann kam der Krieg. 1945 wurde die Familie, wie viele andere in dieser Region, vertrieben. Sie mussten die Heimat verlassen, der Vater war in Haft.
So flüchteten sie zu den Verwandten nach Österreich. Zehn Jahre lang lebten sie in einem kleinen Häuschen in Stützenhofen, heute der kleinste Ort der Gemeinde Drasenhofen, bei einem Bruder der Mutter. 1955 wurde der Vater aus der Haft entlassen und sie kauften das Bauernhaus in Drasenhofen. Die Familie beginnt noch einmal von ganz vorne. Wieder wird ein Landwirtschaftsbetrieb aufgebaut.
Marianne Schmid half überall mit, so wie die anderen Geschwister auch. Eigentlich hätte sie lieber etwas ganz anderes gemacht, doch diese Möglichkeit gab es vorerst nicht, da sie im Familiengeschäft dringend gebraucht wurde. Doch das Gefühl, dass sie etwas Eigenes aufbauen und mehr Geld verdienen wollte nach den kargen Kriegsjahren, das ließ sie nicht los.
Kurze Zeit später lernte sie ihren ersten Mann kennen, mit dem sie vier Kinder bekam. Eines davon ist Isabella, die 1958 auf die Welt kommt. Sie wohnten alle im Elternhaus in Drasenhofen. Das Haus mit dem wunderschönen Garten.
Marianne Schmid stellt ihre Kinder ihr ganzes Leben lang selbstlos in den Mittelpunkt. Sie ist immer für sie da. Einen eigenen Freundeskreis hat sie nie gehabt. Doch da ist ihr tiefer Glaube, der ihr stetiger Wegbegleiter ist.
Ihr Umfeld beschreibt sie als stets sehr fröhlichen Menschen, hilfsbereit mit einem ausgeprägten Sozialsinn. Isabella und ihre Geschwister sagen, sie haben eine wunderschöne Kindheit genossen. Es gibt ein Foto von Marianne Schmid, wo sie in Arbeitsmontur im Grünen steht, ein zufriedenes Lachen im Gesicht. Von allen Aufnahmen ihrer Mutter mag Isabella dieses Foto am allermeisten.
Als die vier Kinder noch klein waren, blieb sie bei ihnen zuhause. Später, nach der Trennung von ihrem Ehemann, musste sie arbeiten gehen, um die Familie zu versorgen. Zuerst fand sie einen Job bei Siemens in Zistersdorf. Danach wechselte sie zu Philips nach Wien, um als Hilfsarbeiterin am Förderband zu werken.
Etwas später hatte sie das Glück, einen Schulwart-Job in Wien-Döbling zu ergattern. Unter der Woche blieb sie in der Hauptstadt in einer Gemeindewohnung, die Wochenenden und Urlaube verbrachte sie in Drasenhofen. So lebte sie bis zur Pension.
Im Jahr 1972 brachte Marianne Schmid ihr fünftes und jüngstes Kind, einen Sohn, zur Welt. Doch auch die zweite Beziehung ging in die Brüche. Sie wollte danach keinen Partner mehr, sie war zufrieden mit ihrem Leben.
Es zog Marianne Schmid auch noch lange nach ihrer Pensionierung immer wieder auf Besuch nach Wien, wo sie viel Zeit mit ihrer anderen Tochter verbrachte, die dort lebt. Es war im Jahr 2012, als sie plötzlich nicht mehr wusste, wie die Adresse der Wohnung heißt und wie sie hinfindet. Diese Momente häuften sich, doch vorerst erzählte sie niemandem etwas.
Die Jahre nach der Diagnose waren gezeichnet von Umbrüchen und Unsicherheiten. Es waren schwierige Zeiten. Marianne Schmid wurde aggressiv, wenn sie merkte, dass sie Aufgaben abgeben muss. Die Wege wurden kürzer, die Erinnerungen verblassten stückchenweise, der Betreuungsaufwand für die Familie stieg an. Doch die geliebte Mutter komplett fremd betreuen zu lassen, stand nie zur Diskussion.
21.Mai 2017 und die folgenden Tage
In Laa an der Thaya bricht der Abend herein. Mittlerweile ist es 20 Uhr und die ganze Stadt ist auf den Beinen, um nach Marianne Schmid zu suchen. Die einen gehen die Gegend ab und rufen laut ihren Namen, die anderen sind auf Fahrrädern unterwegs. Sie alle suchen die ältere Dame, die eine schwarze Hose, schwarze Schuhe und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt trägt.
Eine Unterstützungswelle, die größer nicht sein kann, erfasst die Bevölkerung. Bürgermeisterin Brigitte Ribisch bittet jeden, der kann, zu helfen. Auch sie selbst ist unterwegs und sucht nach Marianne Schmid. Der Lokalsender Laa TV schaltet in kürzester Zeit einen Suchaufruf und verbreitet ihn über Social Media. Es wurden Hubschrauber angefordert, Menschenketten gebildet und Polizeihunde eingesetzt.
Jeder einsetzbare Polizeischüler ist dabei, sie streifen jeden Zentimeter ab. Jäger und Fischer aus der Gegend suchen. Die Rettung und die Freiwillige Feuerwehr rücken aus. Die heimischen Behörden informieren umgehend die tschechischen Kollegen, da das Vitusheim sehr nah an der Grenze zum Nachbarland liegt.
Die Mitarbeiter des Pflegewohnhauses, allen voran die Leiterin Ingrid Lester, sind bis in die Mitternachtsstunden unterwegs. Und natürlich: die Kinder und Enkelkinder von Marianne Schmid.
Die Einsatzkräfte klopfen bei allen Haustüren an, versichern sich bei offenen Kellertüren und leerstehenden Häusern. In der Gegend gibt es einige Gräben, Zisternen, Brunnen und Gerinne, in die sie vielleicht hineingefallen ist. Der Graben mit der steilsten Böschung ist der Pfaffengraben. Er wurde von Tauchern gründlich durchsucht. Auf der anderen Seite liegen weitläufige Felder, aber auch kleine Baumgruppen und Wälder.
Nach ein paar Stunden Schlaf geht die Suche für alle am nächsten Morgen weiter. Erfolglos. Auch am dritten Tag wird das volle Aufgebot gefahren. Die Suchhunde haben es immer schwerer, da Marianne Schmids persönliche Gegenstände kontaminiert waren. So fährt der Bruder nach Drasenhofen und holt weitere Habseligkeiten der Mutter. Die Hoffnung lebt. Immer mehr Fragen tun sich auf. Wie weit kann eine alte, demente Frau kommen? Wieso ist sie nicht zu finden? Warum hat ihr am helllichten Tag keiner geholfen oder hat sie zumindest gesehen? Wie konnte sie aus dem Pflegewohnhaus verschwinden?
Alles wird neu aufgerollt
Zwei Jahre später sitzt Kurt Linzer in seinem Büro im Bundeskriminalamt und runzelt die Stirn. An der Wand hängen Fotos von verschwundenen Menschen. Daneben Zeitleisten, die wichtige Anhaltspunkte markieren. Sein Schreibtisch ist kaum sichtbar unter den Aktenbergen. Linzer ist 51 Jahre alt. Die Stimme rauchig, warm und ernst. Linzer spricht langsam und sagt kein Wort zu viel.
Seit 30 Jahren ist er nun im Dienst der Polizei. Im Zuge des Falles „Natascha Kampusch“ hatte die damalige Evaluierungskommission festgestellt, dass solch komplexe Fälle eine eigene Abteilung fordern. Eine Abteilung, die losgelöst vom polizeilichen Alltag agiert, um akribisch arbeiten zu können. Kurt Linzer wurde beauftragt, sich ein Konzept für eine derartige Unit zu überlegen.
Heute leitet er als Chefermittler die heimische Cold Case Abteilung, die österreichweit arbeitet. Fälle, die im Zuge der ersten Ermittlungen nicht geklärt wurden, landen auf seinem Tisch. Ungeklärte Morde und Vermisstenfälle. Alles wird detailliert neu aufgerollt. Linzer kramt in den Akten auf seinem Schreibtisch, bis er das gesuchte Schriftstück endlich in Händen hält. „Marianne Schmid“ steht auf dem Dokument.
Der Chefermittler
Laa an der Thaya und auch die umliegenden Orte sind zudem sehr religiös geprägt. Es ist ruhig hier, der Mühlbach plätschert vor sich hin. Auf Plakaten kündigen die Ursprungbuam ihren nächsten Auftritt an. Bald wird am Stadtplatz wieder das Zwiebelfest gefeiert.
Verschwindet ein älterer Mensch, so rückt die Frage nach einem eventuellen Erbe oft in den Vordergrund. Doch Linzer winkt sofort ab. „Ich habe eine sehr besorgte, sehr gut strukturierte Familie kennengelernt, die sofort zur Hilfe geeilt ist und alle nötigen Auskünfte gegeben hat.“ Informationen über Lieblingsorte und Bezugspunkte von Marianne Schmid etwa. Sie alle wurden von der Polizei abgearbeitet. Nichts. „Das Gespräch mit der Tochter hat sich in einer sehr ruhigen, sachlichen, aber doch erwartungsvollen Art und Weise dargestellt. Aus diesem Gespräch heraus gab es keinen Ermittlungsansatz. Was es aber sehr wohl ergeben hat, ist die enorme Belastung der Tochter, die psychisch am Boden war.“
Was ist passiert an diesem 21. Mai 2017?
Eine jener Personen, die Marianne Schmid als letztes gesehen haben, ist Julia Kastner. Eine junge Heimhelferin, die an diesem Tag im Betreuungsteam für sie zuständig war. Sie kennt Marianne Schmid schon von früheren Aufenthalten im Vitusheim. „Ich habe sie an dem Morgen gesehen, sie war wie immer und hat ordentlich gefrühstückt. Frau Schmid wollte sogar noch einen Nachschlag haben. Und ja, dann war die Messe.“
An diesem Sonntag wird in der hauseigenen, kleinen Kapelle, die im Erdgeschoss liegt, eine Wortgottesfeier abgehalten. Die Feier beginnt wie immer um 10 Uhr. Zwischen 9.15 und 9.45 Uhr bringen die Mitarbeiter vom Vitusheim üblicherweise die Bewohner dorthin. Es dauert immer eine Weile, bis alle sitzen. Rollstuhlfahrer werden im Mittelgang platziert, links und rechts in den Sitzreihen alle anderen. Pensionisten, die dauerhaft im Pflegehaus untergebracht sind, haben fixe Plätze.
Die Zeugenaussagen widersprechen sich bei der Frage, ob Frau Schmid nun tatsächlich in der Kapelle war, als der Gottesdienst begonnen hat. Pastoralassistentin Anna Graf, die am 21. Mai 2017 die Messe geleitet hat, kann sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Kommunionshelferin Irene Penisch hingegen ist sicher, Frau Schmid war nicht in der Messe.
Sie hat selbst 20 Jahre lang im Vitusheim als Pflegerin gearbeitet und meint, dass es auffallen würde, wenn Bewohner die Messe verlassen. „Jeder, der aufsteht wird gefragt, wohin er möchte und ob er Hilfe braucht. Da geht niemand einfach so.“
Yvonne Widler im Gespräch mit Irene Penisch
Von Bewohnern und ehrenamtlichen Mitarbeitern kommen unterschiedliche Aussagen. Die einen haben sie gesehen, andere nicht. Und manche sagen, sie können sich leider nicht erinnern.
Pflegehausdirektorin Ingrid Lester ist trotz der Widersprüchlichkeiten überzeugt davon, dass Marianne Schmid in der Kapelle war. Eine vertrauenswürdige Mitarbeiterin hätte sie ganz sicher auf ihren Platz gebracht, ob Frau Schmid jedoch vor Messebeginn nochmals aufgestanden und alleine weggegangen ist, das weiß sie nicht. Die angesprochene Mitarbeiterin, Pflegerin Manuela F., wollte dem KURIER kein Interview geben. Sie hätte damals bereits alles zu Protokoll gegeben und damit sei alles gesagt. Sie habe Frau Schmid demnach kurz vor zehn Uhr in die Kapelle gebracht.
Lester leitet das Vitusheim seit 2007. Noch nie hat es dort einen solchen Vorfall gegeben. Die Sache gehe ihr immer noch durch Mark und Bein. Sie kann sich noch sehr gut an Marianne Schmid erinnern.
Vitusheim-Leiterin Lester über Marianne Schmid
Bis heute kann Ingrid Lester nicht verstehen, wie es so etwas geben kann. „Frau Schmid ist wie vom Erdboden verschluckt.“ Sie betont das letzte Wort eindringlich. Dann blickt sie nachdenklich aus dem Fenster. Nach Lesters Angaben muss Frau Schmid die Messe entweder vor dem Ende alleine verlassen haben oder zum Ende gemeinsam mit den anderen Besuchern. Sie betont allerdings, dass Marianne Schmid bisher nie auch nur den Anflug einer Weglauftendenz gezeigt hatte.
Ganz im Gegenteil. Sie war mobil, ja. Aber große Strecken, nein. Und schon gar nicht alleine. So war sie nicht. „Wir haben einige Bewohner, die gefährdet sind, das Haus zu verlassen. Das war bei ihr aber nie der Fall, bis zuletzt nicht. Sie hat immer gerne eine Sitzgelegenheit im Auge gehabt und dort Platz genommen. Es war aus unserer Sicht also nicht notwendig, eine freiheitsbeschränkende Maßnahme zu setzen.“
Heimleiterin Lester über das Verschwinden
Der Gottesdienst endet an diesem Tag wie immer um 10.45 Uhr. Danach registrieren die ersten Mitarbeiter, dass Marianne Schmid nicht mehr da ist und beginnen, nach ihr zu suchen. Das komplette Haus wird vom Keller bis ins Dachgeschoss durchkämmt. Der Garten ebenso. Nichts. Keine Spur von Marianne Schmid.
Die Bürgermeisterin steht vor einem Rätsel
Das große Eingangstor zum Rathaus von Laa an der Thaya knarrt gewaltig. Sonst ist es recht ruhig hier. Im ersten Stock liegt das Büro von Bürgermeisterin Brigitte Ribisch. Braunes hochgestecktes Haar, Stirnfransen. Schwungvoll begrüßt sie ihre Gäste und nimmt gleich vorweg, dass es „für uns alle wirklich ein riesiger Schock war, dass Marianne Schmid verschwunden ist“.
Jeder hier wisse, dass die Menschen im Vitusheim besonders gut versorgt werden. Die Einrichtung sei ein wichtiger sozialer Ort, auch für die Bevölkerung der näheren Umgebung. Ein Platz, wo jeder sich wohlfühlt. „Dort wird niemand festgehalten oder eingesperrt, das wäre ja fürchterlich.“ Ribisch war an jenem Sonntag überzeugt davon, dass Marianne Schmid sich bloß verirrt hat und bald wiedergefunden wird. „Ich dachte, vielleicht ist sie in einen unserer Gräben gefallen, die das ganze Land um Laa durchziehen.
Die Bürgermeisterin über das Verschwinden
"Eine ältere, demente Frau fällt auf"
Der Alzheimer-Experte Dr. Peter Dal-Bianco betreibt eine Ordination in Wien. Er ist Neurologe und Psychiater und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den unterschiedlichen Formen von Demenz und ihren Auswirkungen. Auch er kann mit den Schilderungen des Verschwindens von Marianne Schmid wenig anfangen. „Wissen Sie, das Weglaufen dieser Patienten kündigt sich meistens durch vorhergehendes Fragen und eine gewisse Unruhe an. Bekommt sie dann keine Antworten, kann es sein, dass sie selbst losgeht.“
Dal-Bianco sagt, diese Menschen können oft sehr ausdauernd sein, jedoch kündige sich eine Weglauftendenz immer vorher an. „So eine ältere demente Frau fällt auf. Diese Patienten irren herum und kennen sich nicht aus. Und dann kommt meistens jemand, der sie anspricht und fragt, ob er helfen kann. Oder eine Polizeistreife kommt vorbei. Aber dass sie wirklich spurlos verschwunden ist, das habe ich überhaupt noch nie gehört. Das ist sehr kurios.“
Isabella zündet immer noch täglich die Kerze an. Hier, im Elternhaus der Mutter. Es ist kalt, geheizt wird nicht mehr. Der wärmste Ort ist die kleine Gedenkstätte in der alten Bauernküche, die Isabella hier eingerichtet hat. Da steht ein Kreuz, da liegen geschriebene Gedichte und ausgedruckte Fotos von Marianne Schmid. Im Vorzimmer hängt noch die schwarze Steppjacke und die schwarze Mütze, die Marianne Schmid so oft getragen hat. Tochter Isabella hat es bis heute nicht übers Herz gebracht, die Jacke wegzuräumen.
Die Tochter über den Umgang mit der Trauer
Was ist mit Marianne Schmid passiert? Ermittler Kurt Linzer muss natürlich alle Möglichkeiten, so grausam sie auch sein mögen, in Betracht ziehen.
Die möglichen Ermittlungsoptionen
Die bisherigen Suchaktionen wurden mit Einsatz modernster Technik und größtem Aufwand und Sorgfalt durchgeführt. Die Suchareale und Suchquadranten wurden derart eingegrenzt, „dass wir ausschließen können, dass in dem durchsuchten Gebiet irgendetwas von Frau Schmid zu finden ist. Unsere Polizeischüler haben so genau gesucht, sie haben sogar kleine Platzpatronen von Bundesheer-Übungen gefunden. Das heißt, die Kollegen, die dort unterwegs waren, hatten den Kopf am Boden bei der Suche. Da wurde hochprofessionell gearbeitet“, sagt Linzer.
Von Metallsuchgeräten bis hin zum Leichenspürhund. „Dann hantelt man sich schichtenweise immer weiter weg vom Vitusheim und dehnt die Suche immer weiter aus. Wir haben uns auch die Mühe gemacht, die Möglichkeiten der Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels in Betracht zu ziehen. Aber die Kameraauswertungen an Haltestellen und Bahnhöfen waren negativ. Wir haben von Laa an der Thaya bis Mödling das Videomaterial jeder Haltestelle, das wir öffentlich erhalten haben, ausgewertet. Nichts.“
Jeder hier in Laa an der Thaya kennt den Namen Marianne Schmid. Jeder weiß, dass es um diese sympathische ältere Frau geht, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Und jeder macht sich Gedanken. „Da kann ich gar nicht anders als an das Schlimmste denken“, sagt eine Frau, die gerade in der Gegend des Vitusheims mit ihrem Hund spaziert. „Gerade mit alten, dementen Leuten wird doch immer wieder so viel Schindluder getrieben.“ Sie greift sich an den Kopf und macht anschließend ein Kreuzzeichen.
Sie erzählt von dem Pflegeheim im niederösterreichischen Kirchstetten, das durch die Medien kursiert ist. Alte, wehrlose Menschen sollen dort von Pflegepersonen gequält, misshandelt und sexuell missbraucht worden sein. Die Leitung des Hauses hat offenbar eindeutige Warnungen und Hinweise von Mitarbeitern nicht ernst genommen. Dass das Vitusheim im Fall von Marianne Schmid dahintersteckt, will hier in Laa aber niemand glauben. „Aber wer weiß, wem sie begegnet ist, nachdem sie aus dem Gottesdienst gegangen ist?“, sagt die Frau und geht kopfschüttelnd weiter.
Zwischen Hoffnung und Abschied
Isabella setzt sich auf die Holzbank im Garten unter dem großen Baum. Katze Mia hüpft ihr auf den Schoß. „Das ist Mamas Katze“, sagt sie traurig.
Es ist diese furchtbare Ungewissheit, die so unendlich quält. Kurz nach dem Verschwinden ihrer Mutter ließ Isabella eine Messe für sie lesen, die sie selbst organisiert hat. Die Gäste hörten einen wunderschönen Rückblick auf das Leben von Marianne Schmid. Die Messe wurde als „Dank und Bitte“ betitelt . Als Dank für alles Gute, was diese Frau in ihrem Leben getan hat „und als Bitte, dass wir sie wiederhaben dürfen.“ Die Kirche war damals voll mit Menschen, die ihre Anteilnahme gezeigt haben.
Die Familie sitzt heute oft zusammen. Hilflosigkeit, Ungewissheit, Trauer, Vermissen. „Es gibt für mich ein Thema, das ich ausblende. Das sind ihre letzten Stunden. Über die denke ich nicht nach, das halte ich nicht aus. Ich hoffe, sie hat ihren Frieden gefunden.“ Und dennoch lauert da immer noch die Hoffnung, die Mutter wieder in die Arme schließen zu können.
Die Holzbank im Garten, auf der Isabella gerade sitzt, steht auf einem Hügel. Von hier aus kann man das alte Mikulov sehen, das heutige Nikolsburg, wo Marianne Schmid geboren wurde.
Mittlerweile hat sich die Familie dazu entschieden, den Namen von Marianne Schmid auf dem Elterngrabstein eingravieren zu lassen. Daneben steht ihr Geburtsdatum.
Das Todesdatum fehlt.
Falls Sie etwas zum Fall Marianne Schmid wissen, dann wenden Sie sich bitte dringend entweder direkt an das Bundeskriminalamt unter 01/24836/985025 oder an dunklespuren@kurier.at.
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