Wo liegen die Probleme, wo die Lösungen im Schulsystem?

Sauerstoffmangel in der Klasse wirkt sich negativ auf die Konzentration aus
Bekanntlich ist jede Österreicherin und jeder Österreicher ein Bildungsexperte – weil alle irgendwann einmal in die Schule gegangen sind. Aber es gibt viele Expertinnen und Experten in Österreich, die sich beruflich seit vielen Jahren mit dem Thema Bildung auseinandersetzen – sei es im Bildungssystem direkt oder in dessen Umfeld: Diese Menschen lassen wir in diesem Überblick zu Wort kommen.
Das Thema einer gelungenen Bildung lässt niemanden kalt. Alle befragten Expertinnen und Experten haben einerseits die Notwendigkeit von tiefgreifenden Reformen betont, andererseits haben sie ihren ganz speziellen Blickwinkel in die Diskussion eingebracht.
Bildung ist oft nur in Sonntagsreden wichtig
Adressat aller dieser Impulstexte und Appelle bleibt die Politik. Doch der Bildungspolitik ist schon lange nur in Sonntagsreden eine Priorität zugestanden worden, am Montag darauf blieb sie immer Spielball politischer Partikularinteressen statt Reformvorhaben der ganzen Republik. Hinzu kommt die Reformresistenz des Bildungssystems. Es wird oft als riesiger Ozeantanker beschrieben, der erst sehr lange nachdem das Steuerrad gedreht wurde, seine Richtung ändert.
Tatsache ist, dass der Tanker kaum Fahrt macht und sich zudem nicht in die richtige Richtung bewegt. Es bleibt bei vielen die Hoffnung, dass der Leidensdruck eine Veränderung erzwingt.
Doch was muss konkret passieren - der KURIER hat die gefragt, die sich mit dem Thema beschäftig haben.

Georg Kapsch, ehemaliger Präsident der Industriellenvereinigung
"Das österreichische Bildungssystem krankt trotz teilweise extrem engagierter Pädagoginnen und Pädagogen an seiner Strukturverliebtheit und Reformresistenz. Es kommt teilweise seinem Allgemeinbildungsauftrag nicht mehr nach – der Analphabetismus steigt und die Menschen werden nicht auf Leistungsorientierung und Eigenverantwortung vorbereitet. Wir brauchen mehr Autonomie für Schulen, stärkere MINT-Bildung und ökonomisches Grundverständnis. Entideologisierung der Bildungspolitik ist Voraussetzung dafür. Leistungsorientierung darf kein Tabu sein – Chancengerechtigkeit entsteht durch gezielte und spezifische Förderung individueller Talente. Nur so sichern wir langfristig Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt. "

Peter Mender, Präsident des Katholischen Familienverbandes
"Ein ganzheitliches Bildungssystem vermittelt nicht nur Wissen, sondern berücksichtigt auch die individuellen Bedürfnisse der Kinder und fördert ihre sozialen, emotionalen und kreativen Fähigkeiten. Nachdem Kindergartengruppen und Schulklassen aber zunehmend heterogener und multikultureller werden, wird der ganzheitliche Bildungsansatz herausfordernder. Um trotzdem auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen und sie ausreichend ermutigen und emotional unterstützen zu können, braucht es viel mehr Begleitung durch multiprofessionale Teams – bestehend aus Schulpsycholog/innen, School Nurses und Schulsozialarbeiter/innen.

Barbara Schober, Psychologin und Bildungsforscherin
"Psychische Gesundheit mehr stärken ist wichtig: Psychische Belastungen treten oft erstmals im frühen Jugendalter auf und 24 Prozent der 10- bis 18-Jährigen in Österreich berichten von psychischen Problemen. Die Forschung zeigt, dass Präventionsprogramme flächendeckend eingeführt werden sollten, um Kinder schon vor dem Auftreten erster Probleme zu stärken. Schule bietet dabei einen idealen Kontext, um Gesundheitskompetenzen niederschwellig zu vermitteln und positive Einstellungen früh zu fördern. Die professionelle Stärkung von Lehrpersonen ist zentral, um Gesundheitskompetenzen bereits früh aufzubauen."

Susanna Haas, pädagogische Leiterin St. Nikolausstiftung
"Eine gute elementare Bildung ist die Basis: Im Kindergarten werden kognitive, sozial-emotionale, motorische Kompetenzen gestärkt und Kinder bei ihren vielfältigen Entwicklungsaufgaben unterstützt. Weil die ersten sechs Lebensjahre für die Entwicklung eines Kindes entscheidend sind, braucht es ausreichend Ressourcen, damit der Kindergarten seine Aufgaben auch erfüllen kann: Der Fachkraft-Kind-Schlüssel muss verbessert werden – er ist der entscheidende Hebel, um die Herausforderungen wie individuelle Begleitung beim Spracherwerb, Inklusion etc. zu bewältigen."

Andreas Rabl (FPÖ), Bürgermeister der Stadt Wels
"In Wels haben 22 Prozent der Kindergartenkinder in städtischen Einrichtungen Deutsch als Erstsprache, der Sprachförderbedarf liegt bei 72 Prozent. In den Volksschulen benötigen nur 23 Prozent der Kinder keine Sprachförderung. Die Folge: Im Ausland Geborene haben zu über 50 Prozent nur einen Pflichtschulabschluss, bei Flüchtlingen sind es 73 Prozent. Die Lösung: Sprachstandfeststellungen mit drei Jahren im Rahmen der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung und verpflichtender Kindergartenbesuch bei mangelhaften Deutschkenntnissen in eigenen Sprachfördergruppen. Bei fehlender Mitwirkungspflicht der Eltern muss es Sanktionsmöglichkeiten geben."
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Andrea Walach, ehemalige NMS-Direktorin in Wien
"Im Bereich der Bildung und Förderung ist das Zusammenwirken von vier Beteiligten notwendig. Das sind gesetzliche Grundlagen, Eltern, Kind und Institutionen wie Kindergarten und Schule. Gibt es in einem der Bereiche massive Defizite, wird es immer zum Nachteil der Kinder und in Folge im gesellschaftlichen Zusammenleben gereichen. Aus meiner Sicht gibt es zwei markante Schnittstellen: Der Übertritt in die Volksschule sowie die Beendigung der Schulpflicht und der Eintritt in die Arbeitswelt. Damit Schule gelingen kann, müssen Kinder über grundlegende Fähigkeiten – motorische Fertigkeiten wie auch die gesicherte Anwendung der deutschen Sprache – vor Schuleintritt verfügen. Begleitende und verpflichtende Elterngespräche sind erforderlich. Die zweite Schnittstelle ist schwieriger: In der 8. und 9. Schulstufe werden viele Maßnahmen gesetzt, damit der Eintritt in die Arbeitswelt gelingt. Warum hören Lehrende trotzdem: „Das brauch ich nicht, ich geh’ eh AMS.“ Verlierer bleiben Kinder und Gesellschaft. Um Kindern eine Stimme zu geben, ist das Zusammenwirken aller Beteiligten und Mut zu gesetzlichen Veränderungen nötig."

Heinrich Himmer, Bildungssprecher der SPÖ im Nationalrat
"Jedes Kind verdient die beste Bildung. Der Schlüssel dafür sind gemeinsame, kostenfreie und ganztägige Kindergärten und Schulen, die unsere Kinder fördern und fordern. Neben den klassischen Fächern muss dort auch genug Platz für Bewegung, Musik und Kunst sein. Wir wollen echte Bildungsgerechtigkeit schaffen und darauf achten, dass unsere Kinder ihre Talente voll entfalten können. Das bedeutet, dass für Schulen mit größeren Herausforderungen auch mehr Ressourcen zur Verfügung stehen müssen. Und damit unsere Kinder gesund bleiben, wollen wir für mehr Bewegung und gesundes Essen an unseren Schulen sorgen. Wir müssen die Pädagoginnen und Pädagogen bestmöglich in ihrer Arbeit unterstützen – sie müssen sich auf die Politik verlassen können. Und: Lernen hört nie auf und beginnt schon im Kindergarten. Wir wollen die Lehre stärken und weiter in Erwachsenenbildung und Hochschulen investieren."

Mira Langhammer, Bundesschulsprecherin
"In unserem Bildungssystem wird von uns Schülerinnen und Schülern oftmals verlangt, dieselben Inhalte im gleichen Tempo zur selben Zeit auf die gleiche Art zu lernen.
Das Problem ist allerdings, dass wir das schlichtweg nicht tun. Wenn Schule einen stärkeren Schwerpunkt auf uns als Individuen legen und der Fokus von unseren Schwächen auf unsere Stärken wandern würde, wären wir auf einem guten Weg, dafür zu sorgen, dass Schülerinnen und Schüler noch mehr Spaß am Lernen finden.
Neben einem Upgrade von Lehrmethoden müssen auch die Lehrinhalte ins 21. Jahrhundert gebracht werden – Wirtschafts-, Finanz- und politische Bildung sowie Medienkunde verdienen unabhängig vom Engagement von einzelnen Lehrpersonen einen Platz in unserem Schulalltag."

Wolfgang Lutz, Geograf und Bildungsforscher
"Eine tiefgreifende Bildungsreform ist dringend nötig – und sie muss bei der frühkindlichen Entwicklung ansetzen, wie es etwa Finnland vormacht. Dort umfasst der Eltern-Kind-Pass nicht nur medizinische Untersuchungen, sondern auch regelmäßige entwicklungspsychologische Checks, Sozialberatung und Hausbesuche. Familien erhalten kostenlose Bilderbücher – ein großer Anreiz, besonders für sozial benachteiligte Gruppen, um die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern früh zu fördern. Das Problem beginnt damit, dass bei allem, was mit kindlicher Entwicklung zu tun hat, das Bildungsministerium nichts zu sagen hat. Da gehört ein gesamtgesellschaftlicher Entwurf her. Viele Ärzte finden es eine gute Idee, den Eltern-Kind-Pass mit psychosozialen und entwicklungspsychologischen Aspekten zu verbinden. Das kostet anfangs Geld, was knapp ist. Die Statistik zeigt, dass wir fürs Schulsystem mehr Geld ausgeben als andere Länder. Das Ergebnis ist aber mager. "

Andreas Salcher, Autor und Mitbegründer der Sir-Karl-Popper-Schule
"Jeder fünfte Fünfzehnjährige kann nach neun Jahren Schule nicht sinnerfassend lesen. Dieses Problem schleppen sie dann ihr Leben lang mit, wie die aktuelle OECD-Studie zur Leseleistung Erwachsener zeigt. Ab der Mittelstufe werden dann bis zu 21 säuberlich getrennte Gegenstände in 50-Minuten-Einheiten in kleine Kinderköpfe gestopft. Das funktioniert nicht. Drei Maßnahmen sind notwendig: Wir müssen in hervorragende Kindergärten investieren, dann werden wir in zehn Jahren die besten Schulen bekommen, den Schulleitungen die Macht über ihre Lehrer und ihr Budget geben und endlich flächendeckend echte Ganztagsschulen einführen, damit die Kluft zwischen Bildungsschichten nicht noch größer wird."

Gerald Strobel vom Berufsförderungsinstituts BFI Österreich
"Erwachsenenbildung ist mehr als eine Reparaturdisziplin für den Arbeitsmarkt. Sie ist ein Teil der Antwort auf die wirtschaftlichen, technologischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Sie muss daher neben der Elementarpädagogik und der Schule zu einer Säule unseres Bildungssystems werden. Gelingende Erwachsenenbildung unterstützt Menschen unter würdigen Bedingungen so viel Geld zu verdienen, dass sie ein ein anständiges Leben führen können, und befähigt sie auch im weiteren Leben – was für eine offenen Gesellschaft notwendig ist."

Catherine Walter-Laager, Professorin für Elementarpädagogik
"Was sich in der Bildung ändern muss: Die öffentliche Wertschätzung aller Bildungsstufen – insbesondere auch der ersten Bildungsjahre – ist weiter zu steigern. Dabei empfehle ich, dass die Bedeutsamkeit der Bildung für den Lebensverlauf des Individuums immer wieder verdeutlicht wird, aber auch die Bedeutsamkeit der damit verbundenen Betreuungsaspekte für Familien mit jungen Kindern. Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sind eine kritische Infrastruktur und sollten auch als solche weiterentwickelt werden. Gleichzeitig gilt es auch darzustellen, wie zufrieden viele Pädagoginnen und Pädagogen in den sinnstiftenden Arbeitsfeldern in der Bildung sind.

Thomas Krebs, Pflichtschulgewerkschafter in Wien (FCG)
"An unseren Schulen und insbesondere in Wien gibt es viele Baustellen. Grundsätzlich muss das Unterrichten hier wieder attraktiver werden. Leider ist die Zeit zum Unterrichten immer weniger geworden, weil Unterstützungspersonal in Form von Schulpsychologen oder Sozialarbeitern fehlt oder nicht ausreichend vorhanden ist. In Wien wurden zwar multiprofessionelle Teams groß angekündigt, aber 90 Prozent der Wiener Lehrpersonen in Pflichtschulen spüren laut einer Befragung in der Praxis davon nichts. Immer mehr Schülerinnen und Schüler sind mit den vorhandenen pädagogischen Mitteln nicht beschulbar. Auch haben Systemsprenger und Schülerinnen bzw. Schüler mit besonderen Bedürfnissen massiv zugenommen. Lehrpersonen werden damit einfach alleine gelassen."
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Mario Steiner, Institut für Höhere Studien (IHS)
"Informationsmanagement, vernetztes Denken, kritisches Hinterfragen sowie das Erkennen von Interessen, Strukturen und Zusammenhängen sind Schlüsselkompetenzen, die in Zeiten von Fake News, sozial geschlossenen Rationalitätszirkeln und Rufen nach einfachen Lösungen für komplexe Problemlagen immer mehr an Relevanz gewinnen. Ein Schulunterricht, der auf die Reproduktion von enzyklopädischem Faktenwissen abstellt, Fächersilos im 50-Minuten-Takt unvermittelt nebeneinanderstellt und mehr anhand von Schwächen selektiert als die individuellen Stärken zu fördern, sind keine Grundlage, um sich den Herausforderungen zu stellen und keine tragfähige Strategie, um bei der Jugend die notwendigen Kompetenzen für die nachhaltige Gestaltung der Zukunft sicherzustellen."

Fabio Tiani, Geschäftsführer Hobby Lobby NÖ
"Es gilt noch immer: Wer zuhause weniger Unterstützung erfährt, hat es im System ungleich schwerer und schlechtere Chancen auf Bildungserfolg. Diese soziale Ungerechtigkeit kann nicht von Lehrkräften allein aufgefangen werden, die neben dem Unterricht zunehmend sprachliche Hürden und Bürokratie meistern müssen. Bildung muss breiter gedacht werden: auch außerhalb des Klassenzimmers, in der Freizeit, wo junge Menschen ohne Notendruck Talente entdecken, Beziehungen aufbauen und Selbstvertrauen entwickeln können. Denn Bildung endet nicht mit dem Stundenplan. Sie beginnt mit dem Vertrauen, dass jedes Kind Potenzial hat."

Thomas Götz, Bildungspsychologie Universität Wien
"Eine hohe Wertschätzung der Lehrkräfte und ihrer für unsere Gesellschaft überaus wichtigen Tätigkeit ist von zentraler Bedeutung für unser Bildungssystem. Diese Anerkennung sollte auf allen Ebenen erfolgen – in der Politik, in den Bildungsdirektionen sowie in der Leitung einzelner Schulen. Wertschätzung erfordert keine zusätzlichen Mittel, entfaltet jedoch eine große Wirkung. Werden Lehrkräfte und ihre Arbeit ernsthaft gewürdigt, wirkt sich das unmittelbar positiv auf ihre Motivation und die Qualität ihres Unterrichts aus – und der Lehrkräftemangel könnte dadurch spürbar verringert werden. Darauf weisen mittlerweile zahlreiche Studien hin."

Evelyn Kometter, Elternverband der Pflichtschulen Österreichs
„Mehr Stunden, mehr Lehrer, mehr Geld garantieren nicht automatisch bessere Ergebnisse. Wir möchten bessere Ergebnisse. Jedenfalls muss in der Volksschule der Vorrang auf Lesen Schreiben und Rechnen gelegt werden und es ist Zeit für individuelle Förderung, wo immer es geht - Teamteaching zum Beispiel oder individuelle Lernbegleiter, vielleicht sogar virtuell. Ganz wichtig ist uns, dass wir die Wahlfreiheit haben, in welche Pflichtschule wir unser Kind geben - mehr Zusammenarbeit, mehr Akzeptanz, mehr auf Augenhöhe mit uns Eltern.
Und von den Schulqualitätsmanagement wünschen wir uns, dass sie die Schulqualität heben und nicht das System verteidigen.“
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