Erfahrungsbericht: Schöffin bei der Ex-Justizministerin

Erfahrungsbericht: Schöffin bei der Ex-Justizministerin
Wie es ist, an der Seite von Claudia Bandion-Ortner über andere zu urteilen.

Beim Tatort weiß ich nach zehn Minuten, wer der Böse ist. Im echten Leben ist es dann doch nicht so einfach.

Diese Erfahrung zu machen, dauert ein halbes Jahr. Sie beginnt an einem heißen Juli-Tag, kurz vor zehn Uhr. Claudia Bandion-Ortner tritt vor den Saal 203 des Wiener Straflandesgerichts. Es ist eines von vielen Strafverfahren der ehemaligen Justizministerin in diesem Jahr. Und es ist mein erstes als Schöffin.

Ein ganzer Haufen an potenziellen Laien-Richtern wurde zum Prozessauftakt geladen. Übrig blieben vier – zwei Haupt- und zwei Ersatz-Schöffen: Der Rest will oder kann nicht am Verfahren teilnehmen. Ich bin eine der Haupt-Schöffen und habe nur eine vage Ahnung davon, wie meine Schöffen-Tätigkeit ablaufen wird. Vorgestellt habe ich sie mir wie die Recherche für eine Geschichte: Ich lese die Anklageschrift, mache mir ein Bild von den Angeklagten und den Delikten, die sie begangen haben sollen. Ich lausche den Ausführungen der Richterin. Achte auf die Aussagen der Angeklagten, Zeugen, Ermittler und Sachverständigen. Danach würde ich schon wissen, wie ich zu urteilen habe. Es sollte nicht ganz so sein.

Stilles Kämmerchen

Vor Beginn des Prozesses werden die Schöffen in eine Kammer neben dem Gerichtssaal geholt. Dort erklären die Richter, was dem Angeklagten angelastet wird, welche Beweismittel dargelegt wurden und wie die Polizei ermittelt hat. Die Schöffen geloben Gewissenhaftigkeit und Verschwiegenheit. Wer religiös ist, mit dem Zusatz "So wahr mir Gott helfe". Wer ohne Religionsbekenntnis ist, wird vom Richter per Handschlag vereidigt. Was in der Kammer gesprochen wird, unterliegt dem Beratungsgeheimnis.

Claudia Bandion-Ortner kommt an besagtem Juli-Tag frisch aus dem Kroatien-Urlaub, trägt Sandalen und eine luftige weiße Bluse. Die Fingernägel sind dezent lackiert, sie trägt einen silbernen Ring am Finger. Sie ist freundlich und gut gelaunt. Noch vor Prozessbeginn drückt sie dem Rechtspraktikanten Kleingeld in die Hand. Er möge ihr ein Cola aus der Kantine holen. Die Richterin schleppt vier dicke Aktenordner mit. Die Anklageschrift ist irgendwo dazwischen. Gerne würde ich sie lesen. Aber weil ich das Gefühl habe, dass die Zeit drängt, frage ich vorerst nicht, ob ich einen Blick darauf werfen kann.

Gegenstand unseres Verfahrens ist ein Drogendelikt. Es geht um eine große Menge Speed, einen verdeckten Ermittler und einen Verbindungsmann. Wir müssen herausfinden, ob der V-Mann den Angeklagten zur Tat angestiftet hat oder nicht. Strafrahmen: bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Da muss ich erst einmal schlucken. Einen Menschen für so lange Zeit hinter Gitter bringen zu können, da dreht sich mir kurz der Magen um. Auch wenn ich gewusst habe, dass es – theoretisch – dazu kommen könnte.

Als wir den Gerichtssaal betreten, sind alle Augen auf uns gerichtet. Bandion-Ortner nimmt in der Mitte des Podiums Platz, wir Schöffen links und rechts von ihr. Die Protokollantin sitzt links außen. Wenig später kommt der Rechtspraktikant zurück – allerdings ohne Cola. Bandion-Ortner hat ihm kroatische Kuna mitgegeben.

Dann beginnen die Befragungen der Angeklagten und der Zeugen. Das fühlt sich zeitweise so an wie der Frontalunterricht in der Schule. Man versucht irgendwie konzentriert zu bleiben, in Wahrheit fallen einem fast die Augen zu. Die Aussagen der Beschuldigten werden übersetzt, manchmal antworten sie auch auf Deutsch. Manchmal beschweren sie sich, manchmal weichen sie den Fragen aus, manchmal reden sie herum. Mittlerweile ist es so heiß im Gerichtssaal, dass Bandion-Ortner ihren Talar ablegt. "Meine Burka", sagt sie und lacht. In der luftigen weißen Bluse verhandelt sie weiter.

Ich will eine Frage an den Angeklagten stellen, weiß aber nicht genau, ob ich die einfach so stellen darf oder ob mir die Richterin das Wort erteilen muss. Dann frage ich und einer der Strafverteidiger zwinkert mir zu. Ich überlege, was das zu bedeuten hat. Ich werde es vermutlich nie erfahren.

Nach dem Verhandlungstag brummt der Schädel. Ich bin müde, erschlagen von den Eindrücken. Drei weitere Prozesstage sollen folgen. Es werden Zeugen geladen, neue Beweisanträge gestellt. Immer und immer wieder. "Das ist doch schon alles geklärt, Herr Verteidiger. Was soll das bringen?", fragt ihn Bandion-Ortner irgendwann und verdreht die Augen. Etwas Neues oder Relevantes hat keiner der Zeugen erzählt. Manche sind gar nicht erschienen, als sich der Dolmetscher einmal verspätet, sagt Bandion-Ortner: "Irgendwer fehlt immer."

Dann ziehen wir uns zur Beratung ins stille Kämmerchen zurück.

Im Zweifel für den Zweifel

Dort zu sitzen ist eigenartig. Zu überlegen, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Darüber nachzudenken, ob man ihn ins Gefängnis steckt, ihn von Frau und Kindern trennt, oder nicht. Abzuwägen, ob das, was er getan hat, wirklich so schlimm war, dass man ihn wegsperrt.

Spätestens da wünsche ich mir, ich hätte auf die Durchsicht der Anklage bestanden. Denn Schöffen haben keine Ahnung, was eine "angemessene" Strafe ist. Man bewertet nach dem, was man gesehen hat, vielleicht auch nach Gefühl. Man denkt an Im Zweifel für den Angeklagten und ist geneigt, im Zweifel so zu urteilen wie der Richter.

Acht Jahre muss "unser Angeklagter" hinter Gitter. Das haben wir im November im Schöffen-Senat so entschieden.

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