Schaulust bei Unfällen: Für das "perfekte" Selfie über Leichen gehen

Wer Verletzte fotografiert, stört den Einsatz und verletzt die Privatsphäre der Opfer
Sensationshascherei und mit Smartphones ausgestattete Gaffer erschweren an Unfallorten täglich die Arbeit der Einsatzkräfte. Polizei und Verkehrsexperten mahnen zu Vernunft.

Der beißende Geruch von verbranntem Gummi hängt in der Luft, Glasscherben liegen auf der Fahrbahn und das, was wenige Minuten vorher noch ein Kleinwagen war, gleicht einem verbeulten Blechkübel. Notfallsanitäter sind bereits dabei, den unter den Umständen wohl glimpflich davongekommenen Lenker zu versorgen, während Polizisten die Unfallstelle so gut wie möglich absichern.

Mitten in dem Tumult nähert sich ein junger Mann. In der anfangs noch recht unübersichtlichen Situation geht er direkt auf das Wrack zu. Ein unbedarfter Ersthelfer? Mitnichten. Noch bevor ein Polizist einschreiten kann, zückt der Unbeteiligte sein Handy, kniet sich vor das Unfallauto und schießt ein Selfie. Das „Heast, schleich di“ des Verkehrspolizisten lässt nicht lange auf sich warten. Schnell macht sich der fehlgeleitete „Influencer“ daraufhin aus dem Staub.

Dennoch: es sind Situationen wie diese, die die Arbeit von Blaulichtorganisationen an Unfallstellen zunehmend erschweren. Deshalb warnt der ÖAMTC vor den Mai-Feiertagen und dem damit erhöhten Verkehrsaufkommen erneut vor den Gefahren von Schaulust bei Unfällen.

Täglich Vorfälle

Eine Erhebung des Mobilitätsklubs zeigt, dass ohnehin nur 15 Prozent der Fahrzeuglenker bei einem Unfall stehen bleiben und helfen. Noch schlimmer sei es allerdings, zu stoppen und Helfer zu behindern, betont ÖAMTC-Verkehrspsychologin Marion Seidenberger. Außerdem: „Unfälle mit dem Smartphone zu fotografieren oder zu filmen und anschließend auf Social Media zu veröffentlichen, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch strafbar.“

Schaulust bei Unfällen: Für das "perfekte" Selfie über Leichen gehen

Marion Seidenberger, Verkehrspsychologin (ÖAMTC)

Die Polizei „sanktioniere derartiges Verhalten sehr oft“, heißt es dazu aus dem Innenministerium (BMI). Seit 2018, als Strafen von bis zu 500 Euro für Gaffer eingeführt wurden, gab es laut BMI-Schätzung rund 400 Anzeigen gegen Personen, die „die Hilfeleistung trotz Abmahnung behinderten“ oder „die Privatsphäre von Betroffenen unzumutbar beeinträchtigten“.

Dass Menschen anhalten, um zu schauen, aber nicht helfen, ist leider keine Ausnahme.

von Marion Seidenberger

Verkehrspsychologin (ÖAMTC)

Dass nur Schätzungen vorliegen, liegt laut einem BMI-Sprecher auch daran, dass eine Anzeigenstatistik in diesem Kontext nur bedingt aussagekräftig wäre: „Bei Unfällen müssen die Polizisten täglich Wegweisungen aussprechen, die aber nicht in Anzeigen enden und damit gar nicht dokumentiert sind – von ihrer Arbeit werden die Beamten in diesem Moment trotzdem abgehalten.“

Die Jagd nach „Likes“

Laut Ministerium würden heutige Kommunikationstechnologien wie Tiktok den Trend zur Schaulust befeuern. Eine Einschätzung, die Psychologin Seidenberger teilt: „Die Neugier, wenn etwas Spektakuläres oder Emotionales passiert, gibt es, seit es Menschen gibt. Die modernen Medien erlauben es Unbeteiligten aber, sich bei solchen Vorfällen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Reaktionen in sozialen Netzwerken dienen als Belohnung.“ Dass Menschen anhalten, um zu schauen, aber nicht helfen, sei leider keine Ausnahme.

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Die Expertin kennt Fälle, bei denen Personen nicht nur ihre Pflicht zur Hilfeleistung unterlassen, sondern sich dann beim Versuch, ein Selfie zu machen, auch noch verletzen – das Worst-Case-Szenario also: Es wird nicht geholfen, Helfer werden behindert und dann auch noch deren Ressourcen gebunden.

Seidenberger appelliert an die Vernunft. Die Zahl der Einsatzkräfte sei für die vielen täglichen Notfälle ohnehin knapp. Dass diese noch die Funktion von Wachpersonal am Unfallort übernehmen müssen, sei untragbar.

Prinzipiell habe jeder die Möglichkeit, in solchen Situationen einen Beitrag zu leisten. Erste Hilfe beginne beim Absetzen des Notrufs, Gaffer könne man zudem auf ihr Verhalten aufmerksam machen. „Es braucht wenig, um als Ersthelfer richtig zu reagieren“, so die Verkehrspsychologin. Die Einsatzkräfte nicht zu behindern, wäre ein guter Anfang.

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