Jung, weiblich, obdachlos: Wie Dora im Chancenhaus neu anfängt

Symbolbild
„Mein älterer Bruder ist sehr aggressiv. Und seine Wut hat er meistens an mir ausgelassen“, erzählt Dora. Sie wirkt gefasst, während sie erzählt, was sie mit ihren 20 Jahren schon alles erlebt hat: Schläge, abwesende Eltern, bloß rohe Erdäpfel zu essen. „Dreimal bin ich von Zuhause abgehaut“, sagt sie. Nun hat sie ein neues Zuhause: Das Chancenhaus in der Billrothstraße in Döbling – das einzige für wohnungslose junge Erwachsene in Wien.
Chancenhäuser sind Einrichtungen für obdach- und wohnungslose Menschen, die kurzfristig und unbürokratisch eine Bleibe brauchen. Während man Notschlafstellen am nächsten Morgen wieder verlassen muss, bieten Chancenhäuser mehrere Monate lang ein Zuhause. Sozialarbeiter helfen, zu einem geregelten Alltag zu finden. Das erste Chancenhaus speziell für junge Erwachsene, das vom Verein Neunerhaus betrieben wird, gibt es seit dem Jahr 2023.
39 Klienten im Alter von 18 bis 30 Jahren leben aktuell hier. „Gerade in diesem Lebensabschnitt ist es wichtig, Orientierung zu finden. Viele haben schreckliche Schicksale oder Traumata“, erklärt Paul P., Sozialarbeiter in der Billrothstraße.
Einsamkeit und Gewalt
Eine von ihnen ist Dora (zu ihrem Schutz wurde ihr Name geändert). Als sie vier Jahre alt war, zog ihre Familie aus Osteuropa nach Österreich. „Sie haben eine andere Sicht als ich, wie man das Leben leben muss“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Ich hab’ mich halt ordentlich integriert.“
Sie ist eloquent, wirkt selbstbewusst. Wie sehr sie ihre Erlebnisse belasten, zeigt sich erst im Laufe des Gesprächs: Ihr jüngerer Bruder war schwer krank, die Mutter oft bei ihm im Krankenhaus, der ältere Bruder gewaltbereit. „Das war die Zeit, wo wir manchmal nur rohe Kartoffeln mit Salz gegessen haben.“ War die Mutter Zuhause, versuchte sie, „die perfekte Tochter“ zu sein. „Damit sie nicht gleich wieder weggeht.“
Weder Vater noch Mutter bemerkten, dass der ältere Bruder sie häufig schlug: Er stieß sie gegen den Tisch, warf sie zu Boden, einmal brach dabei sogar Doras Arm.

In der Billrothstraße hat jeder seinen eigenen Wohnbereich.
Auch in der Schule wurde sie gemobbt. Andere Mädchen zogen ihr die Kleidung aus und verprügelten sie. „Erst als ich einmal auf dem Schulklo zurückgeschlagen habe, bin ich zur Schulpsychologin gekommen“, erzählt Dora. Sie fühlte sich niedergeschlagen, verließ ihr Bett nicht mehr, verweigert jegliches Essen. Das Jugendamt und eine Psychologin halfen ihr. Und auch die Geburt des jüngsten Bruders gab ihr den Lebenswillen zurück.
Doch bei ihrer Familie will sie nicht mehr leben. „Ich habe Angst vor meinem Bruder.“ Zuerst kam sie bei ihrem Freund unter, dann ging sie ins Chancenhaus. „Hier fühle ich mich wirklich verstanden“, sagt sie. „Es sind die Mitarbeiter, die dieser Einrichtung die Wärme geben.“
Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin von Neunerhaus, weiß, dass Doras Fall kein Einzelfall ist. „Wohnungslosigkeit wird jünger und weiblicher“, erklärt sie. Ein Problem, das man in ganz Europa beobachte: „Sechs Prozent aller 18- bis 34-Jährigen erleben eine Phase der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit.“
„Man darf auch scheitern“
Unter anderem liege das an den Rahmenbedingungen: „Viele Junge gehen von Werkvertrag zu Werkvertrag, gleichzeitig ist immer weniger leistbarer Wohnraum verfügbar.“ Dazu kommen individuelle Schicksale: „Vielen haben keinen finanziellen oder sozialen Rückhalt“, so Unterholzner. Dabei seien gerade die 20er ein entscheidender Lebensabschnitt: „Eine Phase, in der man sich selbst kennenlernt und in der man auch einmal scheitern darf.“ Bei Frauen sei Wohnungslosigkeit früher weniger in der Statistik aufgeschienen; sie kamen bei anderen unter, wurden oft auch missbraucht.
Mittlerweile sind Einrichtungen für Wohnungslose sicherer, im Chancenhaus gibt es sogar einen eigenen Frauenbereich. „Oft erfahren sie bei uns zum ersten Mal vorbehaltlose Wertschätzung. Wir helfen ihnen, ihr Leben zu sortieren“, sagt Unterholzner. Wie auch in Doras Fall: Sie erwartet ein Baby. Dann möchte sie mit ihrem Freund eine Wohnung suchen, eine Ausbildung machen – und ein neues Leben beginnen.
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