Chemo zu Hause: Was wir vom niederländischen Gesundheitssystem lernen können

Obmann der ÖGK Peter McDonald, oö. LH-Stvin Christine Haberlander, Botschafter Engelbert Theuermann (v. li.)
Zusammenfassung
- In den Niederlanden steuern Allgemeinmediziner und Pflegekräfte den Zugang zum Gesundheitssystem, wodurch Ambulanzen entlastet und Patienten mehr Eigenverantwortung übertragen wird.
- Behandlungen wie Chemotherapien werden häufig zu Hause durchgeführt, unterstützt durch Digitalisierung und innovative Medizintechnik, um Personalengpässe zu kompensieren.
- Das System basiert auf Pflichtversicherung, starker Rolle der Hausärzte und gezieltem Einsatz von Pflegepersonal, während Rettungsdienste Patienten oft vor Ort versorgen, ohne sie ins Krankenhaus zu bringen.
Sonntag Abend, das Kind verletzt sich am Bein. Es weint, die Stelle ist gerötet und geschwollen. Geprellt oder doch gebrochen? Hierzulande lassen Eltern alles liegen und stehen, fahren mit dem Nachwuchs in die nächste Spitalsambulanz, wo es – meist mit entsprechender Wartezeit – Untersuchung, Diagnose und Behandlung gibt.
Ambulanz ist tabu
Passiert Ähnliches in den Niederlanden, sieht der Weg ganz anders aus. Eltern müssen ihre Allgemeinmedizinerin kontaktieren. In der Praxis ist das Krankenpflegepersonal die erste Anlaufstelle. Die Pflegekraft am Hörer lässt sich die Beschwerden schildern und entscheidet dann, wie es weitergeht. Einfach in eine Spitalsambulanz fährt dort niemand, weil es quasi nicht möglich ist.
Der Weg dorthin führt immer über den Allgemeinmediziner. Das entlastet Krankenhäuser, ermöglicht effektivere Behandlungen und wirkt der Personalknappheit entgegen, die es im Gesundheitssektor in den Niederlanden ebenfalls gibt.
Könnten jene Maßnahmen, die in den Niederlanden greifen, auch auf Österreich und konkret auf Oberösterreich umgelegt werden? Das wollte eine Delegation unter Landeshauptmann-Stellvertreterin Christine Haberlander, ÖVP, kürzlich wissen. Unter anderen mit dabei: Peter McDonald, Obmann der ÖGK. Österreichs Botschafter in den Niederlanden, Engelbert Theuermann, berichtete in der Botschaft aus seinem Alltag mit drei Kindern und was passiert, wenn in Den Haag eines davon krank wird.
2006 wurde das niederländische Gesundheitssystem auf komplett neue Beine gestellt. Seitdem sind beinahe 100 Prozent der Einheimischen pflichtversichert. Für das Basis-Paket, das die Grundleistungen abdeckt, sind 158 Euro pro Monat zu bezahlen, daneben gibt es Selbstbehalte. Was es nicht gibt, sind Wahlärztinnen und Wahlärzte: „Das Ziel der Reform war, das System fair, gerecht und für alle zugänglich zu machen“, sagt Bob Tieke von der niederländischen Gesundheitsbehörde Nza.
Menschen
18 Millionen Menschen leben in den Niederlanden auf einer Fläche von ca. 41.500 km2. Damit ist das Land also sehr dicht besiedelt.
Teure Zahnmedizin
Fast 100 Prozent der Einheimischen sind mit dem Basis-Paket pflichtversichert. Nicht abgedeckt ist etwa Zahnmedizin. Aufgrund der hohen Zusatzkosten für die Behandlung gehen rund eine Million Niederländer nicht regelmäßig oder nie zum Zahnarzt.
Konkurrenz belebt
Vier große und weitere kleinere Versicherungsgesellschaften buhlen landesweit um Kundinnen und Kunden. Sie beleben die Konkurrenz, denn ein Mal pro Jahr darf die Versicherung gewechselt werden. Sie sind außerdem dafür verantwortlich, dass jedem Niederländer und jeder Niederländerin ein Allgemeinmediziner zur Verfügung steht. Die spielen die Hauptrolle im System, sie sind die sogenannten „Gatekeeper“, die entscheiden, wer eine weiterführende Behandlung bekommt oder eben nicht. Dabei wird den Niederländerinnen und Niederländern wesentlich mehr Selbstverantwortung zugetraut als den Patienten hierzulande: Das Kind fiebert hoch? Geben Sie ihm drei Tage Paracetamol.
Sogar Chemotherapien und Bauchfelldialysen werden fast flächendeckend zu Hause durchgeführt. „Es hat sechs Monate gedauert, bis es dazu in der Bevölkerung ein Umdenken gab“, erklärt Aart Beeker, Onkologe im Spaarne Gasthuis, einem Krankenhaus in Haarlem nahe Amsterdam. Der Erfolg spreche nun für sich: Betroffene berichten von einer großen Zufriedenheit und Autonomie. Sie können die Therapie eigenständig zu Hause durchführen, lange, anstrengende Transportwege, die sowohl die Patienten selbst, als auch das System belasten, fallen weg. Das Credo, das über allem schwebt: Zu Hause machen, was zu Hause möglich ist.
KI statt Fachkräfte
Klingt alles durchdacht, wenn es im System nicht ähnliche Herausforderungen geben würde wie in Österreich. Allen voran die Personalknappheit, speziell bei Medizinerinnen und Pflegekräften, sowie die schnell alternde Gesellschaft, die wesentlich mehr Pflegeaufwand erfordert.
Jeglichen Optimismus, mehr Arbeitskräfte zu lukrieren, haben die Verantwortlichen hintangestellt. Aktuell geht es darum, gut mit dem bestehenden Personalstand hauszuhalten sowie mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz jene Lücken zu füllen, die aufgrund des Personalengpasses entstanden sind. Dabei erweist sich das Land als durchaus innovativ und federführend in der Forschung. Etwa mit der Entwicklung des MR-Linac, einer Kombination aus MRT Scan und genauer Strahlentherapie in einem Gerät, entwickelt an der Uniklinik Utrecht.
Brauchten Patienten mit einem Prostata-Tumor bisher 35 bis 40 Behandlungen, reichen mit dem neuen MR–Linac zwei. Eine OP und mögliche Komplikationen fallen dadurch weg.
Ob sich Maßnahmen aus dem niederländischen Gesundheitssystem auch hierzulande umsetzen und integrieren lassen, hängt auch davon ab, wie Gesundheitskasse, niedergelassene Ärzte, Spitäler und die Politik künftig zusammenspielen werden.
Reaktionen: Kassenstellen müssen in OÖ besetzt sein
Mit vielen neuen Ideen im Gepäck macht sich Gesundheitspolitikerin Christine Haberlander, ÖVP, nun Gedanken, was davon konkret auf Oberösterreich umzulegen wäre. „Wichtig ist, dass wir ohne Scheuklappen an das System herangehen.“ Eine komplette Verlagerung von Chemotherapie und Bauchfelldialyse ins eigene Wohnzimmer kann sie sich für OÖ nur bedingt vorstellen: „Es soll drei Anlaufstellen geben: Das Spital, die niedergelassenen Ärzte und das Zuhause.“
Was schnell vorangetrieben werden müsse, sei der Ausbau der Pflege und der Ausbau der Kompetenzen, die das Personal hat. „Wir haben in den Niederlanden gesehen, dass der Großteil der Kontakte über das Pflegepersonal läuft, die telefonische Abklärung genauso wie das Wundmanagement.“ Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner als Schlüsselfunktionen wären wünschenswert. „Das ist aber nur umsetzbar, wenn es genug davon gibt. Wo will man die Menschen hinlotsen, wenn die entsprechenden Stellen nicht besetzt sind?“ Deswegen fordere sie klar eine Hausärzte-Garantie in OÖ.

15 Minuten dauert es durchschnittlich vom Anruf bis zum Eintreffen des Roten Kreuzes.
Rettung kommt, aber muss Patientin nicht mitnehmen
Auch das Rettungswesen ist in den Niederlanden ganz anders organisiert als in Österreich. Es gibt keine Ehrenamtlichen, an den Telefonen sitzen Pflegepersonal-Schüler. Wer die Rettung ruft, kommt also zuerst mit einer Pflegekraft in Berührung, die die Lage einschätzt. Das ganze System fußt darauf. Eine Milliarde Euro wird pro Jahr in die Versorgung durch die Rettung investiert.
Was besonders spannend ist: Anders als in Österreich dürfen Pflegekräfte die Patienten gleich vor Ort behandeln. Derzeit passiert das in 30 Prozent aller Fälle. Das Ziel ist es, diese Zahl in den kommenden Jahren weiter zu erhöhen. War die Behandlung erfolgreich, können die Patienten dann auch dort gelassen werden. Der Ansatz ist, so wenige wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Das ist hierzulande nicht möglich.
Wer die Rettung ruft, wird mitgenommen – außer er oder sie unterschreibt Gegenteiliges. Natürlich gibt es auch in den Niederlanden Mediziner, die das System stützen. Sie bleiben im Hintergrund, tragen aber die Letztverantwortung bei den Einsätzen. 15 Minuten dauert es in beiden Ländern vom Anruf bis zum Eintreffen der Rettung, die Anfragen sind hier wie dort in den vergangenen Jahren um knappe 28 Prozent gestiegen.
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