"Ich habe rot gesehen": Wenn Gewalt für Männer zum Mittel der Wahl wird

Mann sitzt im Gerichtssaal
Wenn das dreijährige Kind in einem erwachsenem Mann die Kontrolle übernimmt – und warum Männer mehr über ihre Gefühle sprechen müssen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern.

Ein 36-Jähriger musste sich im Oktober im Landesgericht Ried im Innkreis wegen Mordes an seiner Ehefrau verantworten. Er hatte die 44-Jährige Ende März mit einem Messer getötet – aus Eifersucht, wie er sagte. Über 30 Stiche wies der Körper der Frau auf. Der Mann bekannte sich schuldig, er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Bereits vor der Tat habe es in der Beziehung des Paares Probleme "aufgrund des Jähzorns des Angeklagten" gegeben, schilderte der Staatsanwalt. Die Frau habe über eine Scheidung nachgedacht, ein Streit über die bevorstehende Trennung endete schließlich tödlich für sie.

"Emotionen sind am Steuer, das Denken setzt aus"

Jährzorn, Wut, mangelnde Impulskontrolle Schlagworte, die im Zusammenhang mit männlicher Gewalt gegen Frauen immer wieder fallen. Auch bei dem Prozess in Ried, wo der Angeklagte vor Gericht sagte: "Ich habe wahrscheinlich rot gesehen."

Was bringt einen Menschen dazu, in der Rage mit 30 Messerstichen auf seine Partnerin einzustechen? "Da werden Gefühle so überwältigend, dass sie in dem Moment nicht mehr regulierbar sind. Das Denken setzt aus, weil die Emotionen, der Ärger oder die Wut, das Steuer übernehmen," erklärt Martin Melchard von der Männerberatung Wien.

Die Männerberatung bietet Anti-Gewalt-Trainings für Männer an. Das niederschwellige Angebot startet mit einem Erstgespräch, dieses wird pro Jahr von rund 400 Männern in Anspruch genommen. Etwa zwei Drittel davon kommen freiwillig, ein Drittel per behördlicher oder gerichtlicher Anordnung. "In der tatsächlichen Trainingsgruppe sind dann weniger Freiwillige, da ist das Verhältnis umgekehrt. Auch deswegen, weil unser Anti-Gewalt-Training ein Jahr dauert, was vielleicht abschreckend sein kann," sagt Melchard.

Nicht die Sprache, sondern der Körper agiert

Formulierungen wie "Ich habe rot gesehen" oder "Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist" hört er immer wieder, wenn Klienten von Ausnahmesituationen berichten. Der eingangs genannte Fall in Oberösterreich sei für Melchard aus der Entfernung zwar schwer zu diagnostizieren, seiner Ansicht nach könnte aber Angst eine zentrale Emotion hinter der Tat gewesen sein. "Angst vor Enttäuschung, Angst vor Bloßstellung, Angst vor Verlust des geliebten Objektes. Und dass die Angst den Ärger 'um Hilfe gerufen' hat – und der Ärger schließlich das volle Kommando übernommen hat."

Hier liege ein Grundproblem: Laut Melchard würde vielen Männern "die Sprache fehlen", woraufhin sie in einer emotional schwierigen Situation nicht verbal mit Schimpfen oder Argumentieren agieren, sondern stattdessen den Körper aktiv werden lassen. Was im Worst Case in einer Gewalttat endet. 

Martin Melchard von der Männerberatung Wien.

Martin Melchard ist Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision und Trainer bei der Männerberatung Wien.

Die "Wut eines Dreijährigen" in einem erwachsenen Mann

Dabei scheint es doch so selbstverständlich, negative Emotionen zu verbalisieren, bevor man die Fäuste sprechen lässt – oder? "Es kann durchaus sein, dass dem Mann auf einer tieferen Ebene gar nicht bewusst ist, dass das, was er jetzt tut, Gewalt ist. Oft auch in Kombination mit einer Regression, also mit einem Zurückwandern in die eigene Kindheit: Er verspürt die Wut wie ein Dreijähriger" beschreibt Melchard die Dynamik. "Wenn aber ein Dreijähriger mit Fäusten auf jemanden lostrommelt, weil er wütend ist, wird keiner verletzt. Wenn es jedoch der innere Dreijährige mit der geballten Kraft eines Mannes tut und noch dazu ein Werkzeug wie ein Messer in der Nähe liegt, dann endet das tödlich."

Beginnt der Teufelskreis also bereits in der Kindheit? Ja, wenn man auf gewisse Erziehungsmuster von Buben und Mädchen blickt, die es gesellschaftlich noch immer gibt. "Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Mädchen in ihrer Sozialisation mehr mit Verbalisierung arbeiten als Buben – weil von Buben noch immer erwartet wird, dass sie 'stark' sind, anstatt ihre Gefühle zu benennen. Vielen Männern fehlt dann später im Erwachsenenalter die Übersetzungsleistung von Gefühlsebene auf verbale Ebene, sie ist mitunter zu wenig trainiert worden. Weshalb ihnen schneller die Sprache ausgeht, wenn die Emotionen zu groß werden." Gewalt würde dann zum einfacheren, weil bekannten Mittel der Wahl werden.

"Ja, aber auch die Frauen ..."

Dass natürlich nicht alle Männer gewalttätig sind, liegt auf der Hand. Trotzdem hat jede dritte Frau in Österreich ab dem Alter von 15 Jahren bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Auch war fast jede 6. Frau im Erwachsenenalter schon von Androhungen körperlicher Gewalt betroffen, wie aus der Studie "Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Österreich", beauftragt durch Eurostat und das Bundeskanzleramt, hervorgeht.

Liest man aber in der Berichterstattung nach Femiziden die Kommentar-Bereiche unter den Artikeln, finden sich stets auch Reaktionen jener, die sofort darauf pochen, dass "Frauen ja auch gewalttätig sein können". Melchard kennt diesen Satz ebenfalls aus seinen Beratungsstunden. "Ich würde das als Abwehrreaktion bezeichnen: 'Ich will da nicht hinschauen, deswegen finde ich ein schnelles Beispiel, das dem widerspricht.' Das führt dann im nächsten Schritt zur Täter-Opfer-Umkehr."

Natürlich seien Männer genauso Opfer von Gewalt, auch Frauen können körperlich und damit gewalttätig werden. Aber: "Tendenziell sind Männer nun einmal größer und stärker als Frauen gebaut. Wenn eine 60-Kilo-Frau einem 90-Kilo-Mann eine Ohrfeige gibt, dann tut das zwar im Herzen weh, aber der körperliche Schmerz ist überschaubar. Wenn jedoch der 90-Kilo-Mann zurückschlägt - und das mit der Wut des inneren Dreijährigen, - dann ist das einfach gefährlich."

Nicht selten hört man im Diskurs auch die Aussage: "Sie hat ihn ja provoziert". Melchard dazu: "Ideal gereifte Menschen sind in der Lage, ihre Emotionen zu kontrollieren und zu kanalisieren. Und wenn der Ärger so groß wird, dass ich merke, 'gleich ist es so weit', dann könnte man ja auch Exit-Strategien wählen. Zum Beispiel: Ich verlasse das Zimmer, gehe mal eine Runde spazieren oder laufen oder ins Fitnesscenter."

Anti-Gewalt-Training: Wege gegen den "Filmriss" finden

In ihren Anti-Gewalt-Trainings setzt die Männerberatung genau dort an: Männer lernen, die Anzeichen zu erkennen, wenn ihr Zorn so groß wird, dass sie Gefahr laufen, ihn nicht mehr beherrschen können. Im nächsten Schritt sollen sie Wege finden, um sich wieder regulieren zu können. In Gruppen von sechs bis zwölf Teilnehmern, geleitet von erfahrenen Psychotherapeuten, werden Wege erarbeitet, um schlussendlich andere Formen der Konfliktlösung zu wählen. Auch die eigene Einstellung zu Gewalt sowie der Umgang mit Gefühlen werden erörtert.

Die Unterscheidung von Aggression und Gewalt ist ebenfalls Teil des Programms. Denn: "Aggression ist eine zutiefst menschliche Emotion, die jeder und jede von uns mal verspürt," so Melchard. Auch Time-Out Strategien, Deeskalations- und Neutralisierungstechniken, wenn die Wut über die Männer kommt, werden trainiert.

"Damit sie eben nicht in diese Einengung kommen, dass ihr freies Denken aufhört. Denn das ist genau diese Situation, wo manche sagen: 'Da habe ich rot gesehen, ich wusste nicht mehr, was ich tue, ich hatte einen Filmriss."

Fest stehe, dass das Gewaltthema nicht nur einzelne betrifft man müsse gesamtgesellschaftlich ansetzen und "immer wieder darüber sprechen," so Melchard. "Männer müssen lernen, dass sie auch Mut zeigen, wenn sie ihre Ängste und Emotionen nicht ignorieren und darüber reden, anstatt sie mit Gewalt zu kompensieren."

Dass die Arbeit noch lange nicht vorbei ist, zeigen die Zahlen: Die Autonomen Österreichischen Frauenhäuser verzeichneten allein heuer (mit Stand Ende Oktober und laut Medienberichten) bereits 13 mutmaßliche Femizide und 25 Mordversuche bzw. Fälle schwerer Gewalt gegen Frauen hierzulande. 

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