Mobilitätsexpertin Diehl: "Alle werden den Autos ausgeliefert“
Nach 15 Jahren in der Mobilitäts- und Logistikbranche machte sich Katja Diehl 2017 in Hamburg als Podcasterin und Beraterin selbstständig. Kürzlich war sie für eine Lesung aus ihrem ersten Buch "Autokorrektur - Mobilität für eine lebenswerte Welt" in Wien.
KURIER: Sie sagen de facto, dass wir die Menschen vom Auto befreien müssen. Wie meinen Sie das?
Katja Diehl: Ich habe für das Buch 60 Leute zu ihrer Mobilität interviewt. Die fahren zum Teil Auto, aber nicht freiwillig. Die haben keine Alternativen oder fühlen sich im öffentlichen Raum nicht sicher. Ich möchte einfach zeigen, dass das Auto kein Erfolgsprodukt ist, so wie wir das immer framen, sondern dass es eine Zwangsmobilität für manche Leute darstellt. Und dass es eigentlich in einer demokratischen Gesellschaft nicht sein kann, dass wir sagen: Du kannst nur ein gutes Leben führen, wenn du diesen Daseinsberechtigungsschein namens Führerschein hast und auch ein Auto kaufst. Das ist so irritierend. In Deutschland haben 13 Millionen Erwachsene keinen Führerschein und diese Menschen haben keine Lobby.
Gleichzeitig schreiben Sie im Buch, das Auto sei sehr clever. Was denn jetzt?
Wenn wir sie gut nutzen, sind sie clever. Aber die Statistik sagt, ein Auto wird 45 Minuten am Tag bewegt und es sitzen immer weniger Leute drin. Und das ist dann nicht mehr clever. Ich glaube auch, wenn heute jemand sagen würde, ich habe da ein neues Start-up, das macht aus zwei Tonnen Stahl so eine Sache, mit der ich 1,3 Personen 45 Minuten am Tag bewege und ansonsten steht’s rum, wäre das kein Erfolg. Wir haben uns zu sehr an das Auto gewöhnt. Es sind ja überall Autos, man wächst in dieser Welt auf. Und das zu hinterfragen, ist ja schon die erste Anstrengung, die man machen muss.
Ist es nach Jahrzehnten der Auto-Dominanz nicht schon zu spät dafür?
Ich habe das Gefühl, dass wir so fantasiebehindert und Status-quo-orientiert sind. Wenn wir eine Vision haben, dann sollten wir so groß wie möglich denken. Bei den Interviews habe ich aber gemerkt, es macht den Leuten Angst, darüber nachzudenken, was ist eigentlich, wenn das Auto nicht mehr da ist. Wenn ich alt bin, krank bin, zu arm bin. Viele haben gesagt, "eine Person ohne Führerschein könnte mein Leben nicht führen". Das ist undemokratisch.
Ich bin ein großer Fan von Gleichberechtigung und Demokratie und das würden wohl viele unterschreiben. Aber wenn ich sage, das heißt, dass das Auto Privilegien verliert, dann knatscht es. Ich verstehe nicht, warum ich zu Fuß oder auf dem Rad weniger wert bin als ein Mensch, der so ein Ungetüm fährt. Wir haben das System so aufgebaut, dass ich versuchen muss, zu überleben, nicht zu sehr im Weg zu sein.
Was bräuchte es, um diesen Bewusstseinswandel herbeizuführen?
Ich glaube tatsächlich, dass die Leute verlernt haben, demokratisch zu sein. In dem Sinne, dass sie ihre Stimme nicht mehr erheben. Viele haben sich dem System passend gemacht und haben das Gefühl, ich darf gar nichts fordern, es funktioniert ja eigentlich auch ganz gut. Denen müssen wir den Mut geben zu sagen, wenn du etwas verändern willst, dann hast du eine Stimme. Es fängt ja in der Zivilgesellschaft an. Immer mehr Menschen organisieren sich und sagen, wir wollen das nicht mehr, unser Viertel soll autofrei werden. Das sind alles Dinge, wo die Zivilgesellschaft Druck macht und das einfordert. Politik hört immer auf die lautesten Wählerstimmen. Das ist aber meiner Meinung nach oft nicht die Mehrheit, sondern Leute, die Besitzstandswahrung betreiben.
Sie fordern auch, nicht-männliche Mobilität stärker zu berücksichtigen. Was bedeutet das?
Die Covid-Krise hat wieder gezeigt, dass vor allem Frauen ihre Arbeitszeit verkürzt haben, um Care-Arbeit leisten. Das sind unsichtbare Wege, denn diese Arbeit ist auch statistisch nicht so erfassbar. Und: Sie erfordert Wegeketten. In den Kindergarten, zum Job, einkaufen, Kinder abholen, vielleicht noch bei der pflegebedürftigen Oma vorbei und dann die Kinder zu den Hobbys fahren. Das hat einen anderen Bedarf als dieses eindimensionale Mobilitätsverhalten von Menschen, die nur einer Lohnarbeit nachgehen.
Dann kommt noch der Sicherheitsaspekt dazu.
Genau. Auch für Menschen, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören. Die sagen, ich stelle mich nicht abends an die Haltestelle und fahre Bus, weil ich da aufgrund meines Äußeren angepöbelt werde. Und dann sitzen die im Auto, aber nicht, weil sie das toll finden.
Wie kann man denen helfen?
Mit Personal. Ab neun Uhr abends sollte in der Bahn ein Waggon mit einer Person sein, die Auskunft geben kann, Einstiegshilfe geben kann, aber auch Sicherheit gibt. Ich bin die Erste, die sagt, ich steige nicht nachts um vier an der Reeperbahn in einen autonomen Zwölfsitzer ein und weiß nicht, wer da noch drinnen ist. Ich bezahle gerne einen Euro mehr, damit eine Person an Bord ist, die eingreifen könnte, wenn etwas passiert. Studien zeigen, dass Männern ein Notfallknopf genügt. Frauen denken aber, wie lange dauert das denn dann, bis jemand da ist? Das ist eine andere Herangehensweise und es wäre mir wichtig, dass das zukünftig mitgedacht wird.
Ansonsten fand ich an den Intervíews schön, dass die Lösung meistens relativ simpel war: Die Mobilität soll erreichbar sein, bezahlbar, inklusiv, am liebsten auch klimagerecht.
Österreich macht Ihrer Meinung nach einiges besser als Deutschland. Was denn zum Beispiel?
Ich hatte eine Lesung in Baden und da waren zwei ältere Herrschaften, die gesagt haben, sie haben ihr Auto wegen des Klimatickets abgeschafft. Sie haben gesagt, "ich steige einfach ein, ich nutze es intuitiv und so hat mir dieses Ticket ermöglicht, das Öffi-System kennenzulernen, obwohl ich immer Auto gefahren bin".
Auch die Absprache zwischen ÖBB und Austrian Airlines gefällt mir gut. Da hat man sich an einen Tisch gesetzt und gesagt: Wie vermeiden wir, dass Menschen innerhalb Österreichs fliegen? Das vermisse ich in Deutschland, dass man Dinge einfach einmal ausprobiert. Darum geht es ja auch, dass man erst einzelne Wege ersetzt, dann wird der Zweitwagen abgeschafft – das ist für mich der richtige Weg im Vergleich zur deutschen Politik.
Sie sagen, der Platz für eine menschengerechte Umgestaltung der Stadt muss von den Autos kommen. In Wien wird genau anders argumentiert: Man dürfe die Verkehrsteilnehmer nicht gegeneinander ausspielen.
Das machen wir doch die ganze Zeit schon, seit den 70er-Jahren tun wir das. Alle werden den Autos ausgeliefert. Menschen, die zu Fuß gehen oder auf dem Rad unterwegs sind, sind angehalten, zu überleben. Schon Kinder werden dazu gezwungen, sich passend zu verhalten. Direkt, nachdem sie laufen gelernt haben, lernen sie: pass auf. Nur bis zur nächsten Ecke. Das ist für mich auch das beste Beispiel: Zu sagen, stell dir mal vor, so eine Dreijährige geht durch deine Stadt. Hat die das Gefühl, etwas ausgeliefert zu sein oder dass sie willkommen ist?
Ich finde, es ist eine Lüge, zu sagen, wir dürfen hier keinen gegeneinander ausspielen. Es ist ja nicht gleichberechtigt, es sind nicht alle auf Augenhöhe. Das sollte man ehrlich anerkennen. Und da ist es jetzt an der Zeit, dass andere einmal in die zweite Reihe treten.
In einer KURIER-Umfrage war kürzlich eine deutliche Mehrheit gegen mehr Radwege. Vielleicht gefällt es den Menschen auch, wie es ist?
Wenn die Leute gefragt werden und noch im Auto sitzen, wollen sie natürlich keine Radwege, weil sie dann etwas abgeben müssen. Zusätzlich gibt es ja generell eine intuitive Abwehr von Neuem, weil Neues anstrengend ist. Ich glaube, da brauchen Menschen Reallabore. Dass man sagt, diesen Stadtteil bauen wir jetzt einmal um und dann merkt ihr, was Lebensqualität eigentlich ist. Am besten keinen Stadtteil, in dem die Hipster wohnen, sondern einen sozial prekären Stadtteil.
Wir fahren ja auch im Urlaub meistens an Orte, wo nicht überall Autos sind. Da sitzt man an diesem tollen Platz, wo die Leute flanieren, macht ein Selfie und trinkt seinen Cappuccino. Um dann wieder nach Hause zu kommen und sich dem Stress auszusetzen.
Dazu braucht es aber auch politische Führungsfiguren, die den Mut haben, einfach einmal umzubauen.
Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat auch nicht die Bürger gefragt, sondern einfach gemacht. Das ist genau das, was wir brauchen. Die Vision kann gar nicht groß genug sein. Eine Stadt wie Paris autofrei zu machen – und das will sie ja –, das ist für mich Führungskraft. Und dann auch auszuhalten, dass man nicht von jedem geliebt werden wird. Das werden Politikerinnen und Politiker ja nie, aber sie tun immer so, als würden sie etwas verlieren, wenn sie etwas verändern. Ich glaube aber, man kann nur gewinnen.
Katja Diehl auf Twitter: @kkklawitter
Kommentare