Jugendliche in der Krise: "Sie haben noch so viel Leben vor sich"

Jugendliche in der Krise: "Sie haben noch so viel Leben vor sich"
Ellen Auer-Welsbach, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kepler Uniklinikum in Linz, über schwere Krisen in jungen Jahren, was soziale Medien damit zu tun haben und ihren Beruf als Berufung.

Sie leiten seit neun Monaten die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Linzer Kepleruniklinikum. Was sind Ihre ersten Schlüsse?

Ellen Auer-Welsbach: Ich habe ein engagiertes Team mit viel Fachlichkeit, diese Abteilung – übrigens die größte in Österreich – hat auch viele Herausforderungen. Wir wollen Ärztinnen und Ärzte für das Fach begeistern. Es geht darum, die steigende Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen zu begleiten.

Wer kommt zu Ihnen?

Wir sind eine Akutpsychiatrie. Vorrangig behandeln wir junge Menschen mit Depressionen, Suizidalität, Angst- und Essstörungen, Selbstverletzungen und Schulverweigerer.

Wie haben sich die Fälle im Laufe der Jahre verändert?

Wir haben immer mehr junge Menschen, die drogenabhängig sind, das beginnt mit 12, 13 Jahren. Es gibt auch eine deutliche Zunahme bei der Magersucht, da haben sich die Zahlen zum Teil verdreifacht. Das hängt unter anderem mit den Körperbildern zusammen, die in sozialen Medien transportiert werden.

Was brauchen diese Kinder und Jugendlichen?

Alle suchen Beziehung, Kinder brauchen Kontakte und Austausch. Sie wollen gute Freunde und gemeinsam etwas erleben.

Wie viele Patientinnen und Patienten haben Sie aktuell?

36 Betten sind am Neuromed Campus belegt, 12 am Med Campus, dem früheren AKH, sieben in der Tagesklinik. Wir sind überbelegt. Wir beobachten, dass mit Schulbeginn die Zahl der Patientinnen und Patienten massiv zunimmt. Druck, Stress, in einer Klasse bestehen zu müssen, Versagensängste, Mobbing spielen da stark hinein. In den Sommermonaten ist unsere Abteilung entlastet.

Gibt es Wartelisten?

Ja. Deswegen bauen wir die Angebote in unseren Ambulanzen aus. Auch im niedergelassenen Bereich gibt es lange Wartezeiten, das ist bedenklich. Ein psychischer ist wie ein körperlicher Schmerz, der kann nicht Wochen und Monate warten. Da braucht es rasche Hilfe.

Wie sieht es mit dem Personalmangel aus?

Ja, wir haben offene Stellen, wobei wir gerade einen leichten Zulauf erleben. Die Menschen brauchen gute Arbeitsbedingungen. Deswegen lege ich Wert auf ein gutes Betriebsklima. Mitarbeiter dürfen als Menschen zur Arbeit kommen mit all ihren Stärken und Schwächen, es darf ihnen auch mal schlecht gehen.

Inwiefern?

Wir haben täglich mit hochsensiblen Themen und Familiengeschichten zu tun. Die Emotionen, die wir behandeln, reichen von Traurigkeit bis Verzweiflung. Dafür braucht es gute Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Ausgleich in der Freizeit und einen Austausch im Team. Das stärkt uns. Bei den Herausforderungen vergessen wir nie, dass wir eine wunderschöne Arbeit haben, weil wir helfen können.

Haben Sie dafür Beispiele?

Ich habe ein schwer magersüchtiges Mädchen betreut, das gerne wandern ging. Im Rahmen der Behandlung nahm sie ausreichend an Gewicht zu, sodass sie sich ihren Traum erfüllen konnte. Eines Tages habe ich Bilder bekommen, auf denen sie glücklich am Gipfelkreuz des Großglockners steht. Das war sehr berührend für mich.

Im Klinikum Klagenfurt habe ich einen Burschen betreut, der fast ausschließlich negative Noten in der NMS hatte. Aufgrund dessen zeigte er Verhaltensauffälligkeiten und wollte die Schule abbrechen. Die durchgeführten Testungen ergaben, dass der Bub überdurchschnittlich intelligent war und unter einer Hyperaktivitätsstörung litt. Nach eingeleiteter Therapie setzte er den Schulbesuch fort. Vor drei Jahren maturierte er in der HTL mit Auszeichnung. Die Botschaft ist: Krisen gibt es, aber man kommt wieder heraus, man darf Hilfe annehmen.

Wie fordert Sie der Umgang mit den jungen Menschen?

Der Beruf ist eine Berufung für mich. Wir sind Begleiter für kurze, herausfordernde Wegstrecken im Leben. Und ja, die Jugendlichen fordern uns sehr. Sie wollen mit uns über das Leben und die Themen, die sie beschäftigen reden. Und sie stellen auch kritische Fragen.

Wie würde Ihre Traum-Arbeitssituation aussehen?

Es geht darum, ausreichend Personal zu haben. Wir haben so viele Therapiemöglichkeiten, etwa Therapiehunde, es wird gebastelt, gemalt, gesungen und geturnt, es ist so vielfältig und lebendig. Um diese Lebendigkeit leben zu können, braucht es Zeit, abseits dieser vielen Formalitäten, die im Klinikalltag sein müssen.

Worauf wollen Sie in Ihrer Funktion den Fokus richten?

Ich möchte die gesunden Anteile der Patienten und Patientinnen mehr fördern. Da schwebt mir eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaft vor. Unsere jungen Leute sollen zum Beispiel unkompliziert in Firmen schnuppern können, um ihren Traumberuf kennenzulernen. Jeder Mensch hat gesunde Anteile, Talente und Interessen. Ich habe die Vision, hier Projekte in Oberösterreich zu starten.

Wieso ist diese Brücke zur Wirtschaft so wichtig?

Ich habe in Kärnten eine Jugendliche betreut, sie hat im Rahmen ihrer Therapie und in ihrer WG zwei Jahre so gut wie gar nicht gesprochen. Der einzige Wunsch, den sie artikuliert hat, war: Ich möchte beim Billa arbeiten. Sie bekam die Möglichkeit. Sie arbeitet nun seit einem Dreivierteljahr dort und ist eine sehr engagierte Mitarbeiterin.

Wir müssen jungen Menschen die Möglichkeiten geben, Dinge zu auszuprobieren. Wenn es nicht klappt, sucht man Alternativen.

Wieso können junge Menschen davon profitieren?

Wir vertrauen auf das gesunde Arbeitsumfeld vor Ort, in dem sie sich dann befinden. Viele Menschen in Firmen sind empathisch und hilfsbereit. Es gibt Jugendliche, die sich durch den Beruf stabilisieren können. Die Arbeit gibt ihnen Struktur und Lebensinhalt. Dieser Ansatz ersetzt nicht die Psychotherapie, wäre aber eine Ergänzung. Wichtig wäre bei der Arbeit auch, die Eltern mit ins Boot zu holen.

Wie möchten Sie das machen?

Ich bin auch Familientherapeutin. Ich sehe es in der Elternarbeit, wie sehr Eltern funktionieren – im Beruf, als Partner, als Elternteil. Wir müssen aus der Krankehaustüre hinaus arbeiten und die Bevölkerung erreichen, unter anderem mit Vorträgen und Workshops.

Dauerbrenner soziale Medien: Merken Sie direkte Auswirkungen davon auf Ihren Stationen?

Es gibt zwar eine Handysucht, es werden aber kaum Kinder und Jugendliche bei uns vorstellig mit diesem Thema. An unserer Klinik gibt es klare Stationsregeln mit wenig Handyzeit. Therapie kann nur ohne Handy stattfinden. Mobbing in sozialen Medien ist großes Thema. Bei Anorexien sehen wir diese Beeinflussung ebenfalls stark. Der freie Zugang zu allem kann zu einer Überforderung führen und ist sehr verführerisch.

Wie reagieren Sie darauf?

Wir müssen Gegenangebote machen. Junge Leute sind neugierig, sie wollen Nähe und Beziehung. Den Anstieg von psychischen Krankheiten sehen wir seit Jahren. Wir können mit Aktivitäten und Kommunikation gegensteuern. Kinder und Jugendliche wollen reden und verstanden werden.

Was sind die persönlichen Highlights Ihres Berufs?

Jeder Mensch ist einzigartig, die Lebensgeschichten können sehr betroffen machen. Keine Geschichte wiederholt sich. Das Schöne ist, dass wir positiv etwas verändern und Hoffnung geben können. Diese jungen Menschen haben noch so viel Lebenszeit vor sich.

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