Kinderpsychiater warnt vor sozialen Medien: „Verlieren Kinder an Verhaltenssucht“
Adrian Kamper (61) ist Leiter der Jugend- und Kinderpsychiatrie am Klinikum Wels-Grieskirchen. Dies ist die erste stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrieversorgung außerhalb von Linz, mit einem Einzugsgebiet von rund 500.000 Einwohnern, davon sind 90.000 Kinder und Jugendliche.
KURIER: Sollte man Handys an den Schulen verbieten?
Adrian Kamper: In den Volksschulen braucht man kein Handy, denn die Erreichbarkeit der Kinder ist über die Direktionen gegeben. Wenn die Kinder älter werden, braucht man es nicht in den Unterrichts stunden. Es ist nicht notwendig.
In den Schulen braucht man es also nicht. In den Volksschulen sowieso nicht. Was ist im Alter von 10 bis 14 Jahren?
Im Unterricht benötigt man es nicht. Die Frage ist, ob die Jugendlichen einen adäquaten Umgang pflegen. Haben sie den richtigen Umgang mit dem Smartphone gelernt?
Die Realität ist doch so, dass die Kinder und Jugendlichen machen, was sie für richtig halten. Die Eltern greifen meist erst dann ein, wenn sie etwas stört.
Es gibt unterschiedliche Gruppen von Eltern. Es gibt solche, die sich diesem Thema widmen. Sie haben selbst Medienkompetenz und vermitteln diese den Kindern. Es gibt aber einen Teil an Eltern, denen das kein Anliegen ist, was immer auch die Gründe dafür sind. Wenn die Kinder plötzlich Fehlzeiten haben, gar nicht mehr in die Schule gehen, den Schlafrhythmus verändern, nicht mehr aufstehen wollen, sie sich zurückziehen, Ängste haben und depressiv sind, sind das oft Kinder, die zu hohen unregulierten Medienkonsum haben.
Wie groß ist die Gruppe an Eltern?
In Befragungen (Deutschland) sprechen ca. 30 Prozent der Eltern von eigener fehlender Medienkompetenz. Das ist auch regional unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel Schulen, wo das sehr gut funktioniert. Dann gibt es Schulen, wo dies überhaupt nicht funktioniert. Entscheidend ist wohl ein klares Konzept der Schule im Umgang mit Medienkonsum.
Ein Teil der Eltern misst dem keine Bedeutung zu, das ist ein großer Fehler, denn das führt dazu, dass sie das Ticket ins Leben mit Bildung und Ausbildung nicht so leben können, wie es notwendig ist. Denn sie fallen dann aus dem Schulsystem, weil sie es nicht mehr schaffen.
Erleiden Sie einen Dauerschaden für das Leben?
Auf jeden Fall, was die soziale Kompetenz anbelangt. Auch bei der emotionalen Kompetenz, was den gesunden Einstieg ins Erwachsenenalter gefährden kann. Wenn man das bei den Kindern im frühen Alter nicht mit klaren Regeln in den Griff bekommt, dann darf man sich nicht über Probleme wundern, die Dauerfolgen haben. Ein passender Umgang mit dem riesigen Gefährdungsmomentum digitale Medien gehört heute zu einem gesunden Erwachsenwerden dazu.
Digitale Medienerziehung muss bei den Kindern ansetzen. Je früher, desto besser. Da rede ich noch nicht von der Zeit vor dem Bildschirm und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der Augen. Wenn die Kinder in den ersten drei Jahren dauernd Medien schauen, werden sie kurzsichtig.
Wenn nichts unternommen wird, trifft möglicherweise der Buchtitel von Silke Müller, der Digitalbotschafterin von Niedersachsen, zu, wir verlieren unsere Kinder (Untertitel: Gewalt, Missbrauch, Rassismus – der verstörende Alltag im Klassen-Chat). Es ist ein erschütterndes Buch.
Wenn Eltern und Gesellschaft nichts tun, verlieren wir unsere Kinder?
Wenn die Gesellschaft nichts unternimmt und wir diese Eltern nicht erreichen, dann verlieren wir Kinder. Nicht alle, aber wir verlieren Kinder, die in die Verhaltenssucht rutschen. Die ist nicht weniger stark wie eine substanzgebundene Sucht. Ob das eine männerorientierte, pornografische Sucht ist oder ob eine Shoppingsucht von Mädchen ist, oder ob das Glücksspielsucht ist, der Pfad ist vorgezeichnet.
Liegt die Verantwortung bei den Eltern oder an den Schulen?
Sie liegt primär bei den Eltern. Die Medienkompetenz, die an den Schulen vermittelt wird, hat sinnvollen Einsatz, mit moderner Lernunterstützung, mit Kenntnissen zu tun. Aber die grundsätzliche Kompetenz und die Regeleinhaltung gehören zur Erziehung. Hier braucht es die Medienkompetenz der Eltern. Es braucht für sie wohl eigene Medienworkshops. Dafür bräuchte es so etwas wie einen nationalen Aktionsplan.
Die Zeit, die die Kinder und Jugendlichen mit den Smartphones verbringen, sind das eine. Die Inhalte sind das andere: Aggression, Gewalt und Pornografie. Die Bestimmungen, die davor schützen sollen, werden nicht wahrgenommen.
Sie werden auch von den Betreibern nicht eingehalten.
Die Betreiber wollen Gewinn machen. Durch die immer bessere KI (Künstliche Intelligenz) wird alles auf den persönlichen Nutzer zugeschnitten. Das Gehirn der jungen Konsumenten ist noch unausgereift, er ist auch entwicklungspsychologisch noch unreif.
Sie legen die Verantwortung für den Umgang mit diesen Entwicklungen ganz zu den Eltern?
Nein, gar nicht. Ich beschreibe bloß die Fakten. Aber die Eltern haben die Aufgabe, für die Kinder schon von klein auf eine Vorbildwirkung zu erzielen. Die Kinder lernen von klein auf von den Eltern.
Braucht es nicht doch auch klare Vorgaben? So ist beispielsweise der Verkauf von Alkohol an ein bestimmtes Alter gebunden.
Als ich in Salzburg in der Landesklinik gearbeitet habe, hatten wir um die Jahrtausendwende jährlich rund 150 Alkoholintoxikationen im Alter von neun bis 18 Jahren. Bis dann Regeln entwickelt wurden, bedurfte es eines 20-jährigen politischen Prozesses. Die Entwicklung der Regulierungen hinkt nach.
20 Jahre sind doch viel zu lange.
Das ist viel zu lange. Aber die besten Regeln nützen nichts, wenn sie nicht eingehalten werden. Die Datenschutzbestimmungen, dass beispielsweise WhatsApp erst ab 14 Jahren benutzt werden darf, gibt es ja. Ein Teil der Eltern ignorieren ja diese Regeln. Es ist noch keine Sensibilität dafür da, wie gefährlich das ist. Im Internet ist nichts privat.
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