Es hatte geheißen, das wird ein kleiner Empfang in einer Schule. Aber als ich mit Helmut aus dem Auto steige, stehen fünfhundert Schüler im Hof und in den Fenstern und singen für ihn. Tanzen für ihn, behängen ihn mit bunten Schals, mich auch. Die Show dauert eine Stunde, er lacht sie alle an, sie lachen zurück. Der 70-jährige Weiße hat eine Verbindung mit den vietnamesischen Kindern. Er beugt sich zu jedem hinunter und schaut direkt in die Augen. Nebenbei schenkt er jedem Kind einen, genau einen, Luftballon.
Helmut Kutins Grundidee war: Wenn wir Kindern, die es schwer haben, Respekt und Liebe geben, werden sie die weitergeben. Und die Welt wird besser. Denn Kutin, der 27 Jahre lang das größte private Sozialwerk der Welt geleitet hat, war kein Sozialromantiker: „Man macht Frieden nicht. Frieden entsteht.“ Man kann ihn nicht anordnen, man muss stur und ordentlich dafür arbeiten.
Genauso stur, wie das Schicksal seine Weichen stellte.
An sich war für ihn ein bürgerliches Leben vorgezeichnet: Am 4. Oktober 1941 kam er als Anwaltssohn in Bozen zur Welt. Aber nach Kriegsende die Repressionen gegen Deutschstämmige, folgliche Armut und dann die Erschütterung: Als er sechs Jahre alt war, wurde seine Schwester das erste Opfer des bestialischen Serienmörders Guido Zingerle. Die Mutter starb an Kummer, der Vater war zunehmend überfordert, Tanten brachten den schließlich schon 12-jährigen Helmut ins erste SOS-Kinderdorf nach Imst.
So wurde der große, charismatische Hermann Gmeiner Kutins Ziehvater.
Nach Schule und Studium zog es den Jüngling Kutin zwar ins Leben, Ötztaler Tourismusboom, lange Nächte in der Bar. Aber 1967 bestellte ihn Gmeiner zum Gespräch ein: „Du musst jetzt was zurückgeben“, befahl er und beauftragte Kutin mit dem Aufbau eines Kinderdorfs im kriegsführenden Vietnam. Gmeiner war ein begnadeter Spendensammler, seine Organisation war längst international und er genoss den Trubel als medienöffentliche Figur – weswegen Kutin in Österreich auch nicht jene Bekanntheit hat, die er haben sollte.
Denn Gmeiner bestimmte ihn 1985 vor seinem Tod zwar als Nachfolger, war ihm seine Beliebtheit aber neidig: „Du kannst beliebter sein als ich, aber Gründer wirst du nie.“ So wollte Kutin Gmeiners Status später nie gefährden und blieb in einem Schatten, der ihn selbst und das ganze Kinderdorf im eigenen Land viel kleiner scheinen lässt als im Rest der Welt: Kutin baute zwei Dörfer im Vietnamkrieg auf und rettet Tausende Kinder aus Trümmern, bis heute wird er in Vietnam „Vater“ genannt. Dafür überreichte ihm das mit den USA verbündete Südvietnam den höchsten Orden. 15 Jahre später erhielt er die höchste Auszeichnung des kommunistischen Vietnam. Ritterschlag von beiden Seiten des Kalten Krieges. Als einziger Mensch der Welt.
Friedensnobelpreis
Kutin erlebte viele Kriege und Krisen. „Zum Weinen reicht es nicht mehr“, sagt er mir – die letzten Tränen vergoss er 1994 auf Gräber in Ruanda. Zu dieser Zeit forderten drei Männer den Friedensnobelpreis für Kutin und das SOS Kinderdorf: Nelson Mandela, Desmond Tutu, Dalai Lama. Dass es nie so weit kam, ist ein Fehler der Geschichte und in Gmeiners Nazi-Wehrdienst in Norwegen begründet.
Als Kutin das Präsidentenamt 2012 abgab, hatte er Kinderdorf auf neue Schienen gebracht, „jetzt müssen die Jungen ran“. Er war bis zuletzt unsicher, wie die Balance aus alten Wurzeln und neuem Wirken aussehen muss, aber er ließ es geschehen.
Ich durfte sein Leben in eine Romanbiografie fassen (s. S. 38). Unser Abschlussgespräch nach wochenlangen Interviews und Momenten wie dem Schulempfang in Vietnam fand in seinem Zimmer im SOS-Kinderdorf Bangkok statt, das ab 1976 sein Hauptquartier war, und sein Zuhause. „So, Herr von Halbhuber (er liebte solche Anreden), jetzt hab’ ich dir alles erzählt. Mach’ d’raus, was du für richtig hältst, ich lese es erst als fertiges Buch.“
Dort ist Helmut Kutin, der zugunsten seiner Berufung ehe- und kinderlos blieb, am 23. April 82-jährig im Kreis seiner Kinderdorf-Familie eingeschlafen, um nicht mehr aufzuwachen.
Du fehlst.
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