Der Flüchtling mit der Nummer 1
"Freiheit" lautete das erste Wort als Ayaz Morad (damals 22 Jahre alt) die Grenze nach Österreich überschreitet. Am 5. September um 2.35 Uhr ist der Syrer der erste Flüchtling, der mit Erlaubnis der Behörden ins Land darf. Dieser Schritt markiert den Beginn der Flüchtlingswelle, die kurz zuvor mit Angela Merkls Satz "Wir schaffen das" ausgelöst worden war. Es war der Tag, der Europa bis heute in Atem hält:
Letze Chance Österreich
Denn diese Menschen konnten nicht mehr warten am Bahnhof in Budapest. Sie wurden nicht versorgt, sie wurden sogar von Hooligans angegriffen. Die letzte Chance war Österreich. Menschen mit Flipflops, in Rollstühlen und einige mit Prothesen wanderten stundenlang über die Autobahn. Rund 200 Kilometer waren es nur noch bis zur österreichischen Grenze. "Wenn wir dort sind, da wussten wir, alles wird gut", sagt Morad.
Doch die 4000 Menschen wollen nicht einsteigen. Ihnen sind die Bilder in Erinnerung als einer anderen Flüchtlingsgruppe wenige Tagen zuvor ähnliches versprochen wurde – und diese dann in ein Lager gebracht werden müssen. Mehrere junge Iraker und Syrer streiten darum, was sie tun sollen. Ayaz Morad schlägt ihnen vor, dass der KURIER als Pfand mitkommen soll. Nach weitere Diskussionen stimmen alle Beteiligte diesem Vorschlag zu. Die irakische Gruppe und Morad versuchen indes, auch andere anwesende Medien zu überzeugen, mit ihnen in die Busse zu steigen. Die ARD und eine Wiener Lokalzeitung sind dann ebenfalls mit von der Partie und dürfen auch die Busse besteigen.
Der KURIER als Pfand
Als Morad mit dem KURIER die Grenze überschreitet, werden die anderen Syrer telefonisch informiert, dass die Busse tatsächlich nach Österreich fahren. Dort wartet eine zunächst völlig überraschte Polizei. Man rechnet noch mit 800 Flüchtlingen. Dass 4000 kommen sollen plus 2500 weitere aus Budapest, will man zunächst nicht glauben. Der damalige Sicherheitsdirektor Hans-Peter Doskozil erscheint um drei Uhr in der Nacht, um sich vom KURIER über die Lage zu informieren zu lassen. "Wir wissen leider gar nichts, wir haben keinen Kontakt nach Ungarn", sagt er. Es folgt die größte Hilfsmission in Österreich seit der Ungarnkrise.
Österreich hatte keine andere Wahl als die Grenzen zu öffnen.
KURIER: Das Ziel Ihrer Flucht war Norwich in England, sind Sie dort schon angelangt?
Ayaz Morad: Nein, aber vielleicht werde ich eines Tages dorthin auf Besuch fahren. Derzeit bin ich in einem Flüchtlingsheim in Frankfurt, mit meinen beiden Schwestern und mit meinem Bruder Khaled.
Haben Sie schon Asyl bekommen und dürfen Sie schon arbeiten gehen?
Seit 1. August bin ich anerkannter Flüchtling in Deutschland und habe eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre bekommen. Ich besuche im Moment jeden Tag Deutschkurse und möchte gerne studieren, am liebsten wäre mir etwas im IT-Bereich. Informatiker wäre mein Traumberuf.
Wie sieht derzeit der typische Tagesablauf bei Ihnen aus?
Wir können noch nicht viel unternehmen. Manchmal treffen wir Nachbarn und Freunde. Ich helfe meinen Geschwistern bei den Behördengängen. Sozialamt, Jobcenter, Ausländerbehörde, Krankenhaus – da ist immer etwas zu tun.
"Du warst beim Fall der Berliner Mauer dabei", sagte ein Kollege nach der Nacht auf dem Pannenstreifen in Ungarn. Tatsächlich hat kein Ereignis seit 1989 den Kontinent so geprägt: Brexit, Wiedererstarken des Nationalismus’ und nun wird sogar über Kleidungsvorschriften im öffentlichen Raum diskutiert. Das Öffnen der Schleusen hat Auswirkungen, die auch ein Jahr später noch nicht annähernd abschätzbar sind.
Österreich hatte aber keine andere Wahl. Über die Grenze schleppten sich teilweise am Balkan angeschossene Menschen, kriegstraumatisiert, im Rollstuhl, mit Krücken. Sie wären in kerkerähnlichen Lagern in Ungarn oder Mazedonien gestrandet und im besten Fall gedemütigt worden. Sie wären weiter im Meer ertrunken und in Lkw erstickt.
Heute rufen vor allem jene Menschen laut nach Solidarität anderer Staaten, die selber wenig Solidarität mit Flüchtlingen zeigen. Menschen wie Ayaz Morad zeigen, dass Flüchtlinge eine Chance sind. Er repräsentiert die Mehrheit, auch wenn das keine Boulevardschlagzeile hergibt.
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