Das Verschwinden der Mary Vetsera

Öffnung des Grabes von Mary Vetsera am Friedhof in Mayerling
Im Dezember 1992 wurde bekannt, dass das Skelett der Geliebten des Kronprinzen Rudolf bei Nacht und Nebel aus ihrem Grab am Stiftsfriedhof von Heiligenkreuz bei Wien gestohlen wurde.

Es war eine der aufregendsten Geschichten meines Lebens. Ein fremder Herr trat ein und erklärte, "im Besitz" der sterblichen Überreste der Baronesse Mary Vetsera zu sein. Dann öffnete er einen roten Aktenkoffer, entnahm ihm einen Totenkopf und legte ihn auf meinen Schreibtisch. "Das ist Mary", sagte er.

Mehrere Gutachten

Der Mann stellte sich als Helmut Flatzelsteiner vor, von Beruf Möbelhändler in Linz. Dann überreichte er mir mehrere gerichtsmedizinische Gutachten, die sich mit dem Ableben einer vor rund 100 Jahren verstorbenen Frau beschäftigten. Die namentlich nicht genannte Tote hatte laut den Attesten auffallend langes Haar, war 162 cm groß und zum Zeitpunkt ihres Todes 18 Jahre alt. Das alles war den ärztlichen Expertisen – die Herr Flatzelsteiner selbst in Auftrag gegeben hatte – zu entnehmen.Abgesehen von Schädel und Skelett, wurden in den Gutachten auch Kleider und Schuhe beschrieben, wie sie für eine junge Aristokratin ihrer Zeit typisch waren.

Zwei BurgenländerHelmut Flatzelsteiner gab an, dass er den Sarg der Mary Vetsera, die im Jänner 1889 gemeinsam mit Kronprinz Rudolf in Mayerling gestorben war, samt Inhalt von zwei unbekannten Burgenländern um 30.000 Schilling gekauft hätte. Diese hätten behauptet, die sterblichen Überreste der Geliebten des österreichischen Thronfolgers bei Nacht und Nebel aus ihrer Gruft in Heiligenkreuz bei Wien gestohlen zu haben.Natürlich dachte ich bei dieser Begegnung mit Herrn Flatzelsteiner, einem Verrückten gegenüber zu stehen. Doch als ich die Daten der Toten mit denen der Vetsera zu vergleichen begann, fiel mir auf, dass vieles übereinstimmte: Die Baronesse war vor etwa 100 Jahren verstorben, sie war eher klein und zum Zeitpunkt ihres Todes 18 Jahre alt. Sie hatte langes Haar und war mit der Kleidung, in der sie starb, begraben worden.

Übereinstimmung

Das alles stimmte also mit den mir vorliegenden Gutachten über eine unbekannte Tote überein.

Mir war klar, dass ich den Fall nicht allein lösen konnte. Deshalb zog ich den bekannten Professor für Pathologie, Hans Bankl, bei und zeigte ihm die von Flatzelsteiner in Auftrag gegebenen Gutachten seiner Kollegen Klaus Jarosch und Johann Szilvassy.Professor Bankl sah sich zuerst die ärztlichen Atteste in aller Ruhe an, dann auch die Fotos, die Flatzelsteiner vom Skelett und den Kleidungsstücken hatte anfertigen lassen. Und nach längerer Überlegung meinte Bankl: "Ich könnte mir vorstellen, dass es sich hier tatsächlich um das Skelett der Mary Vetsera handelt!"Ich schrieb daraufhin meinen ersten Zeitungsbericht über den offensichtlichen Kriminalfall und erstattete – noch vor Erscheinen des Artikels – im Sicherheitsbüro der Wiener Polizei Anzeige wegen vermuteter Störung der Totenruhe.Sofortige ÖffnungStunden später wurde aufgrund meiner Anzeige von der zuständigen Staatsanwaltschaft die sofortige Öffnung der Vetsera-Gruft auf dem Stiftsfriedhof in Heiligenkreuz verfügt. Reporter und Fernsehteams aus aller Welt waren an Morgen dieses 22. Dezember 1992 dabei. Und zu Mittag stand fest: Das Grab ist leer! Marys Gebeine waren tatsächlich gestohlen.Bei seiner nun folgenden Einvernahme im Sicherheitsbüro stellte sich heraus, dass Helmut Flatzelsteiner das Skelett nicht – wie ursprünglich behauptet – "gekauft", sondern selbst zwei Männer beauftragt hatte, Mary Vetsera aus ihrem Grab zu holen.

Weltweites Aufsehen

Vor wenigen Tagen, ein Vierteljahrhundert danach, rief ich Herrn Flatzelsteiner an. Er ist mittlerweile fast 80 Jahre alt, in Pension, hilft seinem Sohn aber im Geschäft aus. Nein, er hätte nichts dagegen, wenn ich noch einmal über den "Fall Vetsera" schreibe, sagt der Mann, dessen "Grabraub" damals für weltweites Aufsehen gesorgt hatte.Wie er die Tat nach so langer Zeit erklären könne, frage ich ihn. "Ich habe mich seit meiner Jugend für Geschichte interessiert", antwortet er, "und das ist auch heute noch so". Ihm sei es damals darum gegangen, "das Rätsel von Mayerling" zu lösen. "Historiker und Mediziner haben das vor mir schon versucht, aber es ist ihnen nie gelungen."

Schuss in den Schädel

Herr Flatzelsteiner hat das – auf Wegen, die natürlich klar abzulehnen sind – bis zu einem gewissen Grad geschafft. Denn während mehr als 100 Jahre über die Todesursache der Mary Vetsera nur spekuliert werden konnte, liegen seit Dezember 1992 zwei gerichtsmedizinische Gutachten vor, die belegen, dass die Geliebte des Kronprinzen Rudolf "durch einen Schuss in den Schädel getötet wurde". Über die Tatsache, dass der Sohn des Kaisers der Täter war, bestehen in Historikerkreisen kaum Zweifel.Helmut Flatzelsteiner entging einem Verfahren wegen Störung der Totenruhe, da die Tat bereits verjährt war.Die Gebeine der Mary Vetsera wurden wenige Monate nach Bekanntwerden des "Grabraubs" wieder in ihrer Gruft in Heiligenkreuz zur Ruhe gebettet. Einer weiteren gerichtsmedizinischen Untersuchung wurde vom Stift Heiligenkreuz nicht zugestimmt.

Kommentare