Eine Zeit lang galt der Straßenstrich im Grenzgebiet als kaum mehr existent. In zahlreichen Online-Foren tauschen sich Männer darüber aus, wie „langweilig“ es im dortigen Milieu geworden sei. „Es gibt kaum noch frische Ware“, schreibt einer. Doch der Eindruck täuscht: „Es war einige Jahre etwas ruhiger, aber jetzt gerade ist wieder ein Schwung ganz junger Frauen da“, erzählt Rainer König-Hollerwöger. Er ist Sexualwissenschafter, Soziologe und Autor des Buches „Grenzstrich“, in dem er sich der Erforschung der Schattenwelt zwischen Österreich und Tschechien widmet.
„Die Mädchen sind zwischen 18 und 21 Jahre alt“, sagt König-Hollerwöger. „Wenn sie überhaupt 18 sind.“ Sie kommen aus Tschechien, Polen oder der Ukraine. Die meisten haben schon in der Kindheit Missbrauch erlebt. Bei jedem Wetter stehen sie ab dem frühen Nachmittag am Straßenrand und warten, bis ein Auto anhält und sie mitnimmt. Wenn es im Winter zu kalt wird, tanzen einige von ihnen, um sich warm zu halten. Um freiwillige Sexarbeit handle es sich in 90 Prozent der Fälle nicht, sagt König-Hollerwöger. Die Frauen befinden sich oft in Zwangsverhältnissen – finanziell oder aus ganz anderen Gründen. „Ich habe einen Mann kennen gelernt und bin schwanger geworden“, erzählt Anna. Als das Kind dann da war, habe sie Geld gebraucht, um es zu versorgen. Ihr „Freund“ habe sie auf den Strich geschickt. Bei jedem Freier kassiert er mit. An ihren Beinen hat Anna Narben von Zigaretten, die er auf ihr ausdrückte, als sie einmal aussteigen wollte.
Für einen Blowjob bekommt Anna auf der Straße zehn bis 20 Euro. Das ist billiger als in Österreich, und die Männer kommen nach Tschechien, weil sie nicht erkannt werden wollen. Sie stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten – vom Hausmeister bis zum Chefarzt, vom Familienvater bis zum Junggesellen.
Was sie von den Frauen fordern, ist ganz unterschiedlich. Es gebe ganz „normale“ Kunden, die einfach wieder einmal Sex haben wollen. Andere suchen den Straßenstrich auf, weil sie hier glauben, ihre Gewaltfantasien ausleben zu können. Aber da gibt es noch etwas anderes, was Rainer König-Hollerwöger große Sorgen bereite: die Nachfrage nach Kindern.
Immer wieder würden Männer aus Österreich die Prostituierten fragen, ob sie Kinder hätten und ihnen hohe Beträge dafür bieten, sie mitzubringen. „Wenn die Not der Frauen ganz groß ist, kommt es unter Umständen vor, dass sie das tun“, erzählt der Wissenschafter. Die jüngsten Mädchen, die er am Strich getroffen habe, seien vierzehn und elf Jahre alt gewesen. Das ist allerdings einige Jahre her, denn nach verstärkter Kritik von NGOs und Medien am sogenannten „Baby-Strich“ haben die Behörden durchgegriffen. Obwohl Sexarbeit in Tschechien gesetzlich nur sehr dürftig reglementiert ist, wird gegen Kinderprostitution mittlerweile streng vorgegangen.
Ungewollte Schwangerschaften
Weil viele Männer auf Sex ohne Kondom bestehen oder nur dann bereit sind, den vollen Preis zu zahlen, kommt es immer wieder zu Schwangerschaften, die die Frauen in tiefe Krisen stürzen. König-Hollerwöger erzählt von einem besonders traurigen Fall: „Die Dame war zum fünften Mal schwanger, aber sie wollte das Kind nicht, weil ihr alle anderen Kinder weggenommen worden sind“, berichtet er. Sie habe ihn eines Nachts zu Hilfe gerufen, weil sie solche Schmerzen im Unterbauch gehabt habe. „Sie hat immer gesagt, sie wünscht sich, dass das Kind abgeht und hat auch schon davor in Internetforen Informationen zu Abtreibungen gesucht, die lebensgefährlich sind.“
Nach dieser Nacht hat König-Hollerwöger die Frau nicht mehr gesehen und auch telefonisch nicht mehr erreicht. „Ich hoffe sehr, dass sie noch lebt“, sagt er.
Auch Anna könnte viele Geschichten wie diese erzählen, möchte das aber nicht. „Weil hilft eh nichts“, sagt sie. Sie muss sich darauf konzentrieren, einen Tag nach dem anderen hinter sich zu bringen. Gearbeitet wird bis zum Einbruch der Dunkelheit. Danach beginnt das Treiben in den Bordellen. Doch die Frauen, die dort arbeiten, sind nicht dieselben, wie auf dem Strich. Für die Frauen der Straße ist die letzte Herausforderung des Tages, auf den unbeleuchteten Landstraßen nach Hause zu gehen – oft kilometerlang.
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