10 Jahre Flüchtlingswelle in Österreich: Haben wir das wirklich geschafft?

Ende August 2015 kommt es zum unfassbaren Drama von Parndorf. In einem ungarischen Kühl-Lkw werden 71 tote Menschen vor allem aus dem Irak, Syrien und Afghanistan entdeckt - die Flüchtlinge waren bei dem illegalen Transport im Burgenland erstickt.
Anfang September sagt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren legendären Satz "Wir schaffen das". Kurz darauf brechen alle Dämme und rund 700.000 Menschen flüchten durch Österreich, rund ein Zehntel davon bleibt im Land. Die Menschen werden mit offenen Armen empfangen, doch die Stimmung kippt rasch. Bereits knapp einen Monat später erreicht die FPÖ bei der Wien-Wahl fast 31 Prozent, ihr stärkstes jemals erzieltes Ergebnis. 2017 verliert die SPÖ den Kanzler (Christian Kern) und es kommt eine türkis-blaue Regierung unter Sebastian Kurz (ÖVP).
Nach zehn Jahren ist es an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Haben wir es tatsächlich geschafft? Was sagen Polizei, Politik, Experten und Flüchtlingshelfer?

Parndorf: 71 tote Flüchtlinge in Kühl-Lkw
Flüchtlinge: Besonders hohe Frauenarbeitslosigkeit
Zunächst zu den Zahlen: Fest steht, dass die Arbeitslosigkeit bei den Flüchtlingen von damals höher ist als bei Inländern. Über die exakten Daten kann man streiten, selbst der Integrationsfonds hat verschiedene Berechnungsmodelle, die zeigen, dass 52 bis 70 Prozent der 2015 nach Österreich Geflüchteten mehr oder weniger in Beschäftigung sind, wobei besonders die Frauenarbeitslosigkeit sehr hoch ist.
In Summe ist die Arbeitslosenquote bei Ausländern jedenfalls um rund die Hälfte höher als bei Österreichern. Erst kürzlich zeigte aber eine Berechnung der Statistik Austria, dass Österreich ohne Zuwanderung in den nächsten 45 Jahren um über zwei Millionen Menschen schrumpfen würde. Auch die Pensionen sind ohne Zuzug kaum zu sichern. Das Thema Migration und Arbeit bleibt jedenfalls ein Hauptthema.

700.000 Flüchtlinge zogen durch Österreich
Kriegsflüchtlinge sind weniger kriminell
Noch diffiziler ist die Lage bei der Kriminalität. Die Zahl der in Österreich verübten Straftaten stieg von 2014, dem Jahr vor der Flüchtlingswelle, zum Vorjahr um lediglich etwas über ein Prozent. Tiefer gehende Analysen der Polizei in Deutschland zeigen, dass echte Flüchtlinge sogar weniger kriminell sind als Inländer. Problemfelder sind Asylbewerber aus Nordafrika und Georgien. Verstärkt kriminell sind vor allem jene, deren Asylverfahren negativ abgeschlossen sind, die Betroffenen aber nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können.
Was sagt die österreichische Polizei, ob es Auswirkungen auf die Kriminalität gegeben hat?
"Das würde einer genauen kriminologischen Untersuchung bedürfen", sagt Brigadier Gerald Tatzgern, Leiter der Abteilung Schlepperei und Menschenhandel im Innenministerium. "Faktum ist: Gerade im Bereich der Jugendkriminalität haben wir in den letzten Jahren eine Zunahme an Tatverdächtigen mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft erlebt. Die syrischen Tatverdächtigen im Alten von 10 bis 14 Jahren haben sich vervielfacht in den letzten Jahren. Deshalb haben wir hier einen Schwerpunkt gesetzt und die Einsatzgruppe Jugendkriminalität einberufen."
- Ab dem Frühjahr 2015
Starke Fluchtbewegung Richtung EU, nicht zuletzt wegen des Syrienkrieges. - 31. Juli
NÖ verkündet wegen Überfüllung des Lagers eine Aufnahmesperre für Traiskirchen. - 27. August
Flüchtlingstragödie auf der A4: 71 Tote werden im Burgenland im Laderaum eines Kühl-Lkw gefunden. Die Flüchtlinge sind am 26. August in Ungarn in den Lkw gestiegen. Sie sind erstickt. Ein Mensch hatte nur 0,2 m² Platz. - 31. August
Flüchtlinge stürmen in Budapest Züge nach Deutschland und Österreich. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagt vor dem Hintergrund der hohen Anzahl an Flüchtlingsankünften: „Wir schaffen das!“ - 2. September
Das Foto der Leiche des dreijährigen Aylan aus Syrien, die nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes an einen türkischen Strand gespült wurde, sorgt für weltweite Bestürzung. - 4. September
Österreich und Deutschland erlauben aus Ungarn kommenden Flüchtlingen die Weiterreise . - 11. September
Ungarn weigert sich, bei der Verteilung von Flüchtlingen mitzumachen. - 16. September
Österreich und Deutschland führen „temporäre Grenzkontrollen“ ein. - 19. September
Flüchtlinge kommen über slowenisch-steirische Grenze. Ungarn stellt Grenzzaun zu Kroatien fertig. - 22. September
Beschluss der EU-Innenminister: Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien
in andere EU-Staaten. - Oktober
Nach Angaben der UN sind in einem Monat mehr als 218.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. - 2018
Der Prozess zu den 71 Toten findet in Ungarn statt: Vier Schlepper werden zu 100 Jahren Haft verurteilt.
Tatzgern sieht Europa jedenfalls besser gerüstet als 2015, auch dank eines polizeiinternen Frühwarnsystems. "Die Schleppermafia meidet mittlerweile Österreich. Grundsätzlich war die Route über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien die wichtigste, doch aktuell wurde diese Route durch umfangreiche Maßnahmen an den Grenzen nach Österreichs Veto zur Schengenerweiterung und kriminalpolizeiliche Arbeit stark reduziert. Der Preis für eine Schleppung über die bulgarische Außengrenze hat sich vervielfacht – von 1.000 auf bis zu 9.000 Euro."

2015 - Flüchtlinge in Spielfeld
"Eine kleine Minderheit macht Schlagzeilen"
"Ich würde sagen, wir haben vieles geschafft, wenn auch nicht ohne Probleme", sagt Alexander Pollak von SOS Mitmensch. "Von den Menschen, die im Jahr 2015 kamen, haben laut Arbeitsmarktdaten inzwischen zwei Drittel eine Beschäftigung gefunden und tragen zum Gemeinwesen und Wohlstand in Österreich bei. Andere, die später kamen, kämpfen noch um die Aufnahme in den Arbeitsmarkt. Eine kleine Minderheit, die stark wahrgenommen wird, hat es nicht geschafft, gut Fuß zu fassen und macht durch kriminelle Handlungen Schlagzeilen."
Auch wenn „Willkommenskultur“ inzwischen von manchen zu einem Schimpfwort erklärt worden sei, so habe gerade das Jahr 2015 gezeigt, dass eine gelebte Kultur der Menschlichkeit, der Hilfsbereitschaft und der persönlichen Unterstützung der stärkste Motor für ein gutes Ankommen ist, meint Pollak. "Wir haben erst kürzlich wieder mit vielen Geflüchteten gesprochen, die inzwischen in Beschäftigung sind. Die erzählen, wie entscheidend hilfsbereite und kontaktfreudige Menschen in Österreich für ihren weiteren positiven Weg waren. Das sollte allen Unkenrufen zum Trotz nicht in Vergessenheit geraten."
Nicht zu vergessen ist auch, dass etwa beim Jahrhundert-Hochwasser Hunderte Syrer ausrückten, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen.
"Österreich steht gleich gut oder besser da als vor zwölf Jahren"
"Vor zehn Jahren geschah das, was viele für unmöglich hielten: Für einen kurzen Augenblick waren die Grenzen in Europa offen und Schutzsuchende konnten - auf sicheren Routen - in Europa ankommen", betont Kübra Atasoy, die Vorsitzende von Asyl in Not. "Entgegen aller Empfehlungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse, werden nun in Österreich wieder Ausländerklassen eingeführt, Familien auseinandergerissen und Menschen gegeneinander ausgespielt. Wir haben nun die Grenzen geschlossen und sehen munter dabei zu, wie die Schutzsuchenden dieser Welt in unseren Meeren ertrinken und an unseren Grenzen erfrieren. Es scheint, 10 Jahre später hätten die gewonnen, denen die Leichenberge an den europäischen Grenzen Freude bereiten. Die Entscheidung liegt nicht darin, ob man Flucht und Migration zulässt oder nicht, sondern darin, ob sie tödlich sein soll."
Positive Aspekte sieht hingegen Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination: "In den relevanten objektiven Parametern steht Österreich im internationalen Vergleich jetzt besser oder gleich gut da als vor zehn Jahren: Österreich ist nach wie vor das drittsicherste Land der Welt laut dem Global Peace Index und gehört unverändert zu den rund 20 wohlhabendsten Ländern der Welt laut dem Human Development Index. Die Anzahl der Asylwerber in der österreichischen Grundversorgung ist auf einem historischen Tiefstand - ca. 11.500 oder 0,1% der Bevölkerung Österreichs, im Juni 2025 sind weniger Asylverfahren anhängig als vor und während des langen Sommers der Flucht. Objektiv gesehen gibt es keinen Zweifel: Ja, wir haben es trotz aller Versäumnisse der staatlichen Strukturen geschafft."
Angefragt wurden auch das Sozialministerium von Korinna Schumann (SPÖ), Ex-Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sowie Ex-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Sie wollten nicht Stellung nehmen bzw. ließen sie Anfragen unbeantwortet. Ein Interview mit dem damaligen burgenländischen Polizeichef Hans-Peter Doskozil lesen Sie hier: