Erwin starrt auf die halb leere „Dreh und Trink“-Flasche in seiner Hand. Zuerst schaut er etwas ungläubig, dann zeigt er sie seiner Kollegin, die gerade Cola-Flaschen ins Regal einräumt – und sogleich die Augen verdreht: „Geh, net scho wieder“, sagt sie.
Erwin und seine Kollegin arbeiten in einer Billa-Filiale in Wien. Ladendiebstähle, und zwar auch dreiste, bei denen „Kunden“ Produkte aufreißen, anbeißen und zurücklegen, nehmen den beiden Angestellten zufolge zu. „Das ist extrem, seit alles so teuer geworden ist. Es gibt täglich Zwischenfälle“, erzählt der Filialleiter wenig später. Beim Rewe-Konzern will man auf KURIER-Anfrage von einem Plus bei den Diebstählen nichts wissen: „Wir bemerken keinen generellen Anstieg bei den Diebstählen [...] ein Zusammenhang mit der Teuerung ist nicht gegeben.“
50-Prozent-Pickerl als Beute
Regalbetreuer in den Filialen sprechen hingegen von Obst, das vor Ort gegessen und nicht bezahlt wird, Studenten, die Minus-50-Prozent-Pickerl mitgehen lassen, und Ärzten, die beim Stehlen erwischt werden. Ein Phänomen, das beim Diskonter Lidl auch offiziell bestätigt wird: „Ja, wir können einen Anstieg der Diebstähle bzw. Diebstahlversuche bestätigen“, heißt es aus dem Konzern.
„Immer öfter werden Produkte des täglichen Bedarfs gestohlen. Ein Indikator für Taten aus Geldnot“
von Peter L. Hroch
Berufsdetektiv
Zahlen aus dem Bundeskriminalamt (BK) decken sich mit dieser Wahrnehmung, wenngleich man momentan noch von einer „leichten Steigerung“ spricht. Verglichen mit dem Vor-Corona-Jahr 2019 sind die Supermarktdiebstähle im vergangenen Jahr aber immerhin um 15,6 Prozent gestiegen. Und zwar von 5.292 auf 6.117. Im Bundeskriminalamt wird in diesem Zusammenhang außerdem auf die stets hohe Dunkelziffer hingewiesen.
Momentan entsteht dem gesamten Einzelhandel durch Diebstähle ein jährlicher Schaden von einer halben Milliarde Euro. Detektiv Peter L. Hroch, der seit 30 Jahren tätig ist, ist überzeugt, dass sich der Negativtrend vorerst fortsetzen wird: „Wir spüren den Anstieg in unserer Arbeit, zudem merken wir, dass es sich immer öfter um Produkte des täglichen Bedarfs handelt. Ein Indikator, dass teils aus Geldnot gestohlen wird.“
Der Sicherheitsunternehmer findet die Tatsache, dass er immer mehr Jungdiebe zwischen zwölf und 14 Jahren erwischt, besonders besorgniserregend. Nicht nur werde das Geld vielerorts knapp, auch Soziale Medien spielen eine Rolle: Jugendliche würden ihre Taten für Tiktok filmen, um anderen zu imponieren, sagt Hroch. Häufig werde das dann von Nachahmern als Anleitung hergenommen.
In der Manteltasche
Insgesamt dürfte es sich bei Ladendieben aber um eine heterogene Gruppe handeln: „Die Bandbreite reicht vom Pensionisten bis zum Obdachlosen. Eine ältere Frau mit Wurst unter dem Mantel haben wir genauso erwischt, wie einen jungen Mann mit Rasierklingen im Wert von Hunderten Euro“, schildert ein Lidl-Mitarbeiter seinen Alltag. Einige Filialen seien intern als „Problemfilialen“ bekannt.
Tipps auf Tiktok #borrowing
Unter bestimmten Hashtags werden in Sozialen Medien immer wieder Tipps gegeben, wie man in Geschäften am besten etwas mitgehen lassen kann
Verzweiflungstäter?
Ein Branchenkenner berichtet, dass immer mehr Menschen mit mitgebrachten Behältnissen kommen und vermeintlich unbemerkt Lebensmittel umfüllen. Offenbar in der Annahme, es handle sich um ein Kavaliersdelikt
Die Profis
Gewerbsmäßige Ladendiebe haben es auf teure Produkte abgesehen, die nicht extra gesichert sind und die sich weiterverkaufen lassen. Dazu zählen elektrische Zahnbürsten oder Rasierer
Top 5 Delikte
Ladendiebstahl, Falschgeld, Vandalismus, Bettelei und Bandenkriminalität beschäftigen den stationären Handel
500 Millionen Euro
So hoch ist der jährliche durch Ladendiebstähle verursachte Schaden in Österreich
10–15 Prozent
Laut Schätzungen ist das der Anteil der Filialmitarbeiter, die stehlen
Speziell bei Rasierklingen oder teuren Kosmetika sind laut Hroch häufig gewerbsmäßige Diebe aus Südosteuropa am Werk. Amateure ertappe man immer wieder, wie sie Artikel öffnen und in mitgebrachte Sackerl oder Plastikdosen umfüllen. In beiden Fällen müsse man entschieden vorgehen, damit die Situation nicht – wie in den erwähnten „Problemfilialen“ – ausartet. „Mitarbeiter sollten Diebe ausnahmslos anzeigen und Konzerne ihre Angestellten in der Diebstahlprävention schulen.“ Derzeit passiere das zu wenig, kritisiert der Sicherheitsexperte.
Im Einzelhandel wird auf das Anbringen von Diebstahlsicherungen verwiesen. In Penny-Markt-Filialen sorgten diese zuletzt etwa auf Butter für Verwunderung. Damals wurde bestätigt, dass man so auf „vermehrten Schwund“ reagiere. Offenbar jedoch nicht die einzige Maßnahme, zu der der Handel greift: „Mit meiner Firma kann ich die Nachfrage nach Securitys und Detektiven derzeit nicht bedienen. Uns gibt es seit 1996, das gab es aber noch nie.“
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