Als Demokratiehauptstadt Europas ermutigt Wien zu mehr Mitsprache

Als Demokratiehauptstadt Europas ermutigt Wien zu mehr Mitsprache
Wien hat sich gegen zahlreiche Städte durchgesetzt und darf sich für ein Jahr Demokratiehauptstadt Europas nennen. Ein Jahr für all jene, die zu oft überhört werden.

„Ich kann nicht mehr schweigen, ich werde nicht mehr schweigen“, hallte es am Dienstagabend durch die altehrwürdigen Hallen des Veranstaltungsgebäudes „Reaktor“ in Hernals. Auf eindringliche Art läuteten die Vokalistinnen des „Femchor“, eine Gruppe von Sängerinnen, die „mehrstimmig gegen das Patriarchat“ ankämpft, Wiens Jahr als europäische Demokratiehauptstadt ein.

Als zweite Stadt überhaupt nach Barcelona wird Wien diese Ehre – und Aufgabe – zuteil. Gegen sieben Bewerber konnte man sich durchsetzen und nicht nur eine Expertenjury, sondern auch 4.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger überzeugen. „In Wien zählt jede Stimme. Wir wollen auch jene stärken, die bisher nicht ausreichend Gehör gefunden haben“, nannte Demokratiestadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) in seiner Festrede eines der Ziele der kommenden Monate.

Wien ist anders, spucken manche mit Ekel aus. Aber Andersartigkeit ist hier Normalität.

von Solmaz Khorsand

Autorin und Journalistin

Wie seine Vorredner betonte er, dass Spalter und Populisten auf der ganzen Welt zu einer schleichenden Aushöhlung demokratischer Prinzipien beitragen würden. Diese Gräben müsse man wieder füllen – speziell in Zeiten, in denen soziale Medien und „Fake News“ den Diskurs vergiften. „Dieses Gift wirkt dort, wo die sozialen Ängste am größten sind“, warb er für mehr Teilhabe aus allen Schichten.

Wie diese Teilhabe konkret aussehen könnte, wurde ebenfalls erläutert. Schon bei der Bewerbung als Demokratiehauptstadt musste Wien neben bereits umgesetzten Prestigeprojekten, darunter etwa die Gemeindebauten oder die Kindermillion, neue Projektideen einreichen.

Eines dieser Projekte ist das recht neugegründete „Büro für Mitwirkung“, das als Bürgeranlaufstelle für aktive Mitgestaltung der Stadt konzipiert und außerdem mit der Organisation des Demokratiejahrs betraut wurde. Ein weiteres Beispiel ist das bereits als Pilotversuch laufende Wiener Klimateam, das es Anrainern ermöglicht, Ideen für ein besseres Klima im Grätzl umzusetzen.

Partizipation auf allen Ebenen ist generell die wichtigste Vision für das Projektjahr. „Städte sind Innovationsräume und Versuchslabore, in denen wir neue Wege der Mitbestimmung erproben können“, erklärte Czernohorszky.

Die Auszeichnung
Die gemeinnützige Initiative „European Capital of Democracy“ verlieh heuer zum zweiten Mal den Titel „Europäische Demokratiehauptstadt“. Wien folgte für das Projektjahr 2024/25 Barcelona nach

300 Tausend Euro
Dieser Betrag wird ab 2025 für Bürgerinnen- und Bürgerprojekte zur Verfügung stehen, die zu einem demokratischeren Wien beitragen. Genau Kriterien werden Anfang des kommenden Jahres bekannt gegeben

Infos
www.wien.gv.at/demokratiehauptstadt

300.000 € Förderungen

Einmal mehr bedauerte der rote Stadtrat, dass in der Bundeshauptstadt mehr als ein Drittel der über 16-Jährigen nicht wählen darf, weil als Voraussetzung dafür die österreichische Staatsbürgerschaft notwendig ist. Ein Umstand, der junge Menschen sichtlich stört, wie eine im Rahmen der Auftaktveranstaltung gezeigt Videobotschaft veranschaulichte: Jugendliche mit Migrationshintergrund kamen darin zu Wort. Ein junger Mann äußerte Sorgen, dass sich Österreich undemokratischen Ländern annähern könnte und Randgruppen unterdrückt würden, „wenn sie nicht ausreichend gehört werden.“

Um dem entgegenzuwirken, werden alle Wienerinnen und Wiener ab 2025 die Möglichkeit haben, Ideen für eine demokratischere Stadt einzureichen. Aus einem eigens eingerichteten, mit 300.000 Euro befülltem Fördertopf werden die besten Vorschläge unterstützt.

Mit besonders viel Applaus wurde schließlich die provokante Rede der Autorin und Journalistin Solmaz Khorsand bedacht. Sie outete sich als großer Wien-Fan und forderte mehr urbanen Pathos anstatt provinzieller Engstirnigkeit.

Ein „Mehr an Mensch“ müsse nicht bedrohlich sein, postulierte sie. „Wien ist anders, spucken manche mit Ekel aus. Stinkig, laut, schmutzig, die Ausländer. Aber Andersartigkeit ist hier Normalität – ohne Häme, Spott und Hass“, erklärte Khorsand ihre Wien-Liebe. Selbiges kann zweifelsfrei auch über die Demokratie gesagt werden. Wien will sich das jetzt ein Jahr lang ganz besonders in Erinnerung rufen.

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