„Waren die Maßnahmen des Shutdowns nicht überschießend?“

Peter Niedermoser, Präsident der Ärztekammer Oberösterreich
Oberösterreichs Ärztekammerpräsident Peter Niedermoser befürchtet Langzeitfolgen: kürzere Lebensarbeitszeit aufgrund von Armut, Sorge um die Finanzierung des Gesundheitssystems.

Peter Niedermoser (59) ist seit 2005 Präsident der Ärztekammer für Oberösterreich und Facharzt für Pathologie am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Linz.

KURIER: Viele Arztpraxen sind noch halb leer. Die Zahl der Herzinfarkte hat sich angeblich halbiert. Warum gehen die Menschen weniger zum Arzt bzw. ins Spital?

Peter Niedermoser: Durch den Lockdown, durch das Niederfahren der Krankenanstalten und der Ordinationen, was von der Regierung erwünscht war, und durch die Berichterstattung über das Virus haben die Menschen massiv Angst bekommen. Sie haben in den Spitälern und Praxen Ansteckungsherde gesehen.

Ein Problem war auch, dass in den Praxen die Schutzausrüstungen nicht da waren. Diese sind jetzt da. Wir haben auch klar kommuniziert, dass die Patienten vorher per Mail oder telefonisch einen Termin vereinbaren. Man muss auch bei Grippeinfektionen schauen, dass möglichst wenig Patienten in den Ordinationen sind, um Ansteckungen zu vermeiden, dass sie in getrennten Räumen sitzen und dass Abstand gegeben ist. Und dass die Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Dann kann nichts passieren.

Die Grundproblematik ist, dass von Anfang an keine Gesundheitsfolgenabschätzung gemacht worden ist. Man hätte von Beginn an abschätzen müssen, welche Folgen das für die Gesellschaft hat.

Wenn die Patienten nicht rechtzeitig in die Ordinationen und Spitäler gehen, bedeutet das für sie eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.

Das ist unsere Befürchtung und das ist ganz logisch. Das bedeutet, dass es vermehrt zu chronischen Erkrankungen kommt. Im schlimmsten Fall kann es zu einer Verkürzung der Lebenszeit für die Patienten führen.

Das ist eben die Gesundheitsfolgenabschätzung. Was bedeutet der Shutdown für die Patientinnen und Patienten?

Ist das zu wenig bedacht worden?

Hier muss man sagen, dass alle Staaten ähnlich reagiert haben wie Österreich. Es sind noch nicht so viele Daten vorgelegen, erst jetzt werden immer mehr bekannt. Es ist gelungen, die Ansteckungsrate zu minimieren. Aber es zu fragen, ob die Maßnahmen aus der jetzigen Sicht nicht überschießend waren. Diese Frage muss man stellen. Vielleicht war das damals noch nicht so zu sehen. Studien zeigen, dass Arbeitslosigkeit die Lebenszeit verkürzt. Wir wissen, dass die Reichsten um bis zehn Jahre länger leben als die Ärmsten.

Ich habe die Diskussion in Deutschland genau verfolgt. Dort ist sehr viel offener diskutiert worden. Medizin ist weder schwarz noch weiß. Die Experten haben auch unterschiedliche Meinungen. Es war auch nicht optimal, dass der Kanzler seinen Expertenstab gehabt hat und der Gesundheitsminister seinen eigenen. Und dass sie unterschiedlich besetzt waren. Da wurden zu wenig Spezialisten der Epidemiologie und Infektiologie und zu viele Mathematiker und Virologen eingeladen.

In Deutschland hat die Kanzlerin gesagt, es ist Kritik gefordert und erwünscht. In Österreich hat man den Eindruck gewonnen, dass die Kritiker in Verschiss gekommen und aus den Krisenstäben hinausgefallen sind. Diese Vorgangsweise gefällt mir nicht.

Wie hoch sind die Umsatzrückgange in den Praxen?

Sie sind unterschiedlich. Aber mindestens 50 Prozent, wenn nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen haben sehr viel Telefonberatung gemacht.

Ich habe nie an die 100.000 Toten geglaubt, die anfangs in den Raum gestellt worden sind. Ich habe nie daran geglaubt, dass jeder einmal einen Covid-Erkrankten oder Covid-Toten in seiner Familie haben wird. Denn die Gesundheitssysteme von Italien und Spanier sind keineswegs mit unseren vergleichbar. Die Intensivbettenanzahl pro 100.000 Einwohner beträgt in Deutschland 30, in Österreich 29, in Italien 8,6 und Spanien 6,4. Diese Länder haben ein katastrophales System der Altenbetreuung. Wir haben ein wirklich gut aufgestelltes Gesundheits- und Sozialsystem. Ich bin stolz darauf, dass wir als Ärzte darum gekämpft haben, dass es nicht totgespart wird. Gegen Patientenanwälte, gegen manche Politiker und gegen manche Gesundheitsökonomen, die gesagt haben, hier muss eingespart werden.

Es gibt aber nun den Medizinökonomen Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS), der trotz der Pandemie für einen Abbau der Spitalsbetten plädiert.

Diese Damen und Herren haben keine Ahnung. Das ist ein Affront gegenüber den Leistungen der dort Beschäftigten und dem Gesundheits- und Sozialsystem. Ja, es kostet, aber es ist es wert.

Die Hausärzte sind ein wesentlicher Pfeiler des Gesundheitssystems, das hat die Krise wieder unterstrichen. Aber nur mehr wenige wollen Hausärzte werden, die Mehrheit der jungen Ärztinnen und Ärzte bevorzugt ein Dasein als Wahlarzt. Begründung: Mehr Freiheit, mehr Wahlmöglichkeiten.

Wir kümmern uns in Oberösterreich gemeinsam mit dem Land und der Gebietsstelle der Gesundheitskasse wirklich sehr darum, die jungen KollegInnen für das Berufsbild des Hausarztes zu interessieren. Es ist ein sehr schöner Beruf, trotz der bürokratischen Hemmnisse, die es gibt und die wir vereinfachen müssen. Die Gesundheitskasse sollte jetzt diesen Weg mit uns gehen, damit wir zu Lösungen kommen. Es wird eine Folge der Pandemie sein, dass ein Kassenvertrag wieder interessanter wird. Denn Wahlärzte haben keinerlei Fixeinnahmen gehabt, was ein Problem ist.

Das Gesundheitssystem kostet uns als Bürger nicht wenig Geld. Wir haben es uns leisten können, weil wir fleißig gearbeitet und Steuern gezahlt haben. Ich habe jetzt aber Angst, dass wir es uns durch den Shutdown mittelfristig nicht mehr leisten werden können. Weil das Geld aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs, der nun prognostiziert wird, nicht mehr vorhanden ist.

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