"Viertel mit zweisprachigen Kindergärten"

Seit 21 Jahren im europäischen Parlament: Paul Rübig, ÖVP
Nicht die EU funktioniert nicht, sondern Mitgliedsstaaten halten sich nicht an die von ihnen mitgefassten Beschlüsse, sagt der Welser EU-Abgeordnete Paul Rübig.

Der Welser Paul Rübig (63, ÖVP) ist seit 21 Jahren Abgeordneter zum Europäischen Parlament und dort unter anderem Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses.

Was funktioniert noch in der EU? Das Einzige ist offensichtlich der gemeinsame Binnenmarkt.

Das Entscheidende ist, dass die Demokratie noch funktioniert. Wir leben in einem System, das sicherstellt, dass sich kleine und große Länder, dass sich Nord und Süd und West und Ost treffen und unter der Koordinierung der Kommission ständig Fortschritte erzielt werden. Mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher Intensität. Die Gemeinsamkeit, die die EU gewährleistet, hat uns seit dem Zweiten Weltkrieg vor kriegerischen Auseinandersetzungen bewahrt.

Der wirtschaftliche Aspekt ist ganz maßgeblich für die soziale Situation. Auch hier hat sich gezeigt, dass durch den Binnenmarkt und die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch in den Ländern, die vom Kommunismus gebeutelt waren, ein gewisser Wohlstand entstanden ist. Die Programme der EU haben zu sehr guten Fortschritten geführt. Auch in der Landwirtschaft. Wir haben zum Beispiel das größte Forschungsprogramm der Welt. In den Schlagzeilen sind in erster Linie jene Bereiche, die nicht so gut funktionieren und wo auch die EU keine Kompetenz hat. Umwelt-, Binnenmarkt- und Energiepolitik sind weitestgehend europäische Kompetenzen geworden, alle anderen Bereiche bedürfen der Einstimmigkeit im europäischen Rat. Und Einstimmigkeit bei 28 Mitgliedsländern, bei derartig verschiedenen Parteien und Interessen, ist eine riesige Herausforderung. Was ist die Alternative?

Die EU verkündet Errungenschaften, die nicht funktionieren. So zum Beispiel Schengen und den Schutz der gemeinsamen Außengrenze. Die Flüchtlinge sind ohne Kontrollen durchmarschiert und marschieren heute noch durch.

Das Schengen- und Dublinsystem wurde im Rat einstimmig und mehrheitlich vom Europäischen Parlament beschlossen. Dadurch wurde es legale Basis. Die Nationalstaaten wollten den Schutz der gemeinsamen Außengrenzen selbst übernehmen. So hat zum Beispiel kürzlich der ehemalige französische Präsident Sarkozy gesagt, es werde nie infrage kommen, dass ein bulgarischer oder rumänischer Grenzwachebeamter in Frankreich die Kontrolle übernehmen wird.

Die Staaten wollen das selbst machen, sind aber damit überfordert.

In Griechenland hat die Bevölkerung extreme Parteien gewählt: mit Syriza eine links-kommunistische und und weiters eine stark nationalistische Partei. Griechenland war mit den Flüchtlingen völlig überfordert. Das Versagen der griechischen Politik war dafür verantwortlich, dass europäische Rechtsvorschriften nicht eingehalten wurden.

Dasselbe ist doch in Italien der Fall.

Natürlich hat auch in Italien die extreme linke Einstellung des Grenzenöffnens und des Unterstützens von Flüchtlingen dazu geführt, dass die Flüchtlinge nicht in Italien bleiben wollen, sondern in erster Linie nach Österreich und Deutschland weitergehen.

Das ist also nicht das Versagen der EU, sondern von einzelnen Mitgliedsländern?

Genau. Die Regierungen einzelner Staaten halten sich nicht an europäische Regelungen, die sie aber zugesagt und beschlossen haben.

Was macht die EU mit diesen Ländern?

Sie hat Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Gegen Griechenland, gegen Italien und gegen einige andere Staaten auch. Die Sanktionen sind nicht so dramatisch, dass sich die Staaten davor fürchten. Meist sind es finanzielle Strafen. Für einen Staat wie Griechenland, der sowieso am Rande der Pleite steht, ist eine finanzielle Strafe eine relative Angelegenheit.

Welche Mittel kann man einsetzen, um Sicherheit und Ordnung wieder herzustellen? Hier haben Rat, Kommission und Parlament viele Schritte gesetzt.

Wann funktioniert der Schutz der Außengrenze?

Es hat sich schon sehr viel getan. Es ist die Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) zuständig. Die Mitgliedsstaaten haben sich aber geweigert, die notwendigen Ausrüstungen zu liefern und das Personal zu stellen. Die Folge war, dass Frontex zu schwach war, die Probleme vor Ort zu lösen. Die EU hat die wenigsten finanziellen Mittel von allen Ebenen. Sie hat weniger als ein Prozent des BIPs aller Nationalstaaten. Dazu kommt, dass die Staats- und Regierungschef vereinbart haben, den Haushalt in den nächsten sieben Jahren um vier Prozent zu kürzen und ein Prozent der Dienstposten pro Jahr abzubauen.

Die Öffnung des Arbeitsmarktes hat dazu geführt, dass viele Arbeitnehmer aus Ost- und Südosteuropa zu uns kommen. Unsere Bevölkerung leidet unter den Einbrüchen von Diebesbanden aus diesen Ländern. Weiters erhalten sie unsere Sozialleistungen, obwohl sie nie in die Töpfe einbezahlt haben. So zum Beispiel die Kinderbeihilfe, auch wenn die Kinder in den Heimatländern bleiben. Die österreichische Regierung möchte das ändern, die Kommission lehnt aber eine Kürzung ab.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist wichtig, um Wohlstand auch in den ehemaligen kommunistischen Ländern zu generieren. Sie integrieren sich auch relativ unproblematisch. Probleme haben wir eher mit jenen, die von außerhalb Europas kommen.

Aber die Diebesbanden kommen hauptsächlich aus EU-Ländern.

Hätten wir Europol und die europäische Union nicht, die die Daten abgleichen, dann würden die Banden von einem Land zum anderen ziehen und die einzelnen Nationalstaaten hätten keinerlei Informationen. Die Aufklärung von Diebstählen und Verbrechen ist durch das Schengensystem extrem gestärkt worden.

Aber die Einbrüche finden nach wie vor statt.

Dann muss man sich fragen, ob die Strafen ausreichend sind. Wenn Einbrecher auf freiem Fuß angezeigt werden, verstehen diese unser System nicht. Das ist nicht abschreckend. Unsere Gefängnisse sind teilweise besser und moderner als die Wohnungen, von woher diese Täter kommen. Die Strafen sind nicht abschreckend. Es geht in erster Linie darum, Präventionsmaßnahmen zu setzen, damit solche Taten verändert werden können.

Der Datenabgleich funktioniert aber großteils nicht. So ist beispielsweise der 17-jährige Afghane, der in Freiburg ein Mädchen vergewaltigt, getötet und dann in den Fluss geworfen hat, bereits in Griechenland wegen eines Mordversuchs in Haft gewesen, ohne dass das die deutschen Behörden wussten. Anis Amri, der Christkindlmarkt-Attentäter von Berlin, war ebenfalls bereits in Italien in Haft. Die Deutschen wussten wieder nichts davon.

Damit ist klar, dass das nur durch eine verstärkte Zusammenarbeit auf europäischer Ebene gelöst werden kann. Wir haben hier einen Interessenskonflikt. Das Bedürfnis nach Datenschutz macht es für die Behörden oft wirklich schwierig, die Daten abzugleichen. Das ist ein echtes Problem. Die moderne Technologie muss finanziert werden. Ein Fingerabdruck ist leicht fälschbar, aber ein Stimmprofil gäbe eine genaue Indikation darüber, woher die Person ist. Mit Stimm- und Gesichtserkennung kann man Menschen heute eindeutig identifizieren. Mit Sprachprofilen kann man auch die Stadt bestimmen, wo der Einzelne aufgewachsen ist. Den Einsatz dieser Techniken muss man ermöglichen.

Die Rückführung von Flüchtlingen in die nordafrikanischen Staaten funktioniert auch nicht.

Man muss damit beginnen, dass nicht jeder, der das einfach will, nach Europa einreisen kann.

Man soll also Einrichtungen schaffen, wo Asylwerber ihre Asylansuchen abgeben.

Wir haben das alles. Wir haben in all diesen Ländern Botschaften mit Visaabteilungen. Da geht man hin und erklärt das Problem. Es kann nicht sein, dass man ohne Grund und ohne Papiere einfach die Grenzen übertritt.

Das ist jetzt der Fall.

Das ist nicht akzeptabel und muss so schnell wie möglich abgeschafft werden. Man muss an einer Botschaft außerhalb Europas um Asyl ansuchen.

Man muss jene Asylwerber, die mithilfe von Schleppern plötzlich bei uns auftauchen, wieder zurückschicken?

In Ankara gibt es eine große Europäische Botschaft. Wir haben dort auch unsere eigene österreichische Botschaft. Die Flüchtlinge sollen zur Asylabteilung gehen, die das prüft und die die Menschen identifiziert. Da können sie nach Europa einreisen. Wir haben die EU-Quotenregelung für die Flüchtlinge.

Die Quotenregelung funktioniert auch nicht.

Ohne Solidarität und Zusammenarbeit wird es nicht gehen. Es gibt das Störfeuer der nationalistischen Parteien, die die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene nicht wollen.

Gibt es den von Kommissionspräsident Jean Claude Juncker angekündigten 300-Milliarden-Investitionsfonds überhaupt?

Ja. Jetzt wollen wir den 44-Milliarden-Juncker-II-Fonds für die Entwicklungsländer. Vor allem für die ländlichen Gebiete in jenen Ländern, wo die Flüchtlinge herkommen. Um Megastädte mit Slums zu verhindern. Da soll es eine Zusammenarbeit der kleineren und mittleren Betriebe in Europa mit denen Afrikas geben. Ich habe hier ein Austauschprogramm für junge Unternehmer durchgesetzt. Und als zweites das Migrant-Entrepreneurship für Flüchtlinge, die hierher gekommen sind. Diese Community muss lernen, sich selbst zu organisieren.

Wir haben aus Amerika gelernt, dass Chinatown in vielen Städten hervorragend funktioniert. Solange sie gegenüber der ansässigen Bevölkerung tolerant sind, kann man in Frieden zusammenleben.

Eine ähnliche Entwicklung erwarten Sie bei uns?Dass sich beispielsweise Syrer in gewissen Stadtteilen ansiedeln?

Das funktioniert in Wels schon ganz gut. Wir haben gewisse Viertel, wo sich bestimmte Ethnien ansiedeln, weil sie sich in ihren eigenen Bereichen am wohlsten fühlen. Solange sie gegenüber uns tolerant und respektvoll sind, können wir in gegenseitiger Anerkennung sehr gut miteinander leben. Das Problem beginnt dort, wo sie unsere Kultur nicht akzeptieren. Wenn sie glauben, dass es in unseren Krankenhäusern so wie bei ihnen ist, dass zum Beispiel in einem Mehrbettzimmer gekocht wird, muss man sie lehren, dass das anders ist. Und wenn es ihnen nicht passt, müssen sie dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind.

Wenn Ethnien in einem Stadtteil stärker vertreten sind, sollen sie in den Kindergärten auch die Möglichkeit haben, die Muttersprache zu lernen. Aber auch die Muttersprache des Gastlandes.

Also zweisprachige Kindergärten?

Das ist etwas, was in der Zukunft eine Stärke wäre. Das Bildungsangebot muss sich auf die neue Situation schneller einstellen.

Das ist die multikulturelle Gesellschaft.

Solange Toleranz und gegenseitiger Respekt gelebt werden und die Leitkultur des Gastlandes die Leitkultur bleibt.

Kommentare