Sucht-Primar über soziale Medien: „Wir steuern auf eine Katastrophe zu“
Am 10. Oktober ist Welttag der psychischen Gesundheit. Unter dem Rahmenthema „Psychisch gesund – in turbulenten Zeiten“ werden von 1. bis 10. Oktober verschiedene Beiträge an unterschiedlichen Standorten bzw. digital angeboten. Pro mente beschäftigt in Oberösterreich 1.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihr Vorstandsvorsitzender ist Primar Kurosch Yazdi-Zorn. Der 49-Jährige ist Vorstand der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am Kepler-Universitätsklinikum.
KURIER: Jonathan Haidt, Professor für Sozialpsychologie an der New York University, diagnostiziert in seinem Bestseller „Generation Angst“, dass sich die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen durch die Smartphones und durch die Selfie-Kultur rapide und dauerhaft verschlechtert hat. Ist das ein Befund, den Sie teilen?
Kurosch Yazdi-Zorn: Das stimmt grundsätzlich. Die Selfie-Kultur bewirkt lediglich, dass die Menschen narzisstisch anfälliger werden. Narzisstisch sind wir alle, aber wir werden noch geübter, narzisstisch zu sein. Wenn ich am Foto immer gut aussehen muss, trainiert das den Narzissmus des Menschen. Das wird mit uns schon einmal etwas machen, aber ich glaube nicht, dass das zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit führt.
Die Social-Media-Nutzung führt dagegen sicher zu einer Verschlechterung. Nicht bei allen Menschen, aber bei einer gewissen Gruppe. Es gibt viele Studien, die das belegen. Wir wissen, dass Kinder, die zum Beispiel Tiktok oder Youtube-Shorts konsumieren, einen viel höheren Stresslevel haben. Vor allem jene, die auch noch selber posten. Das greift bei manchen, nicht bei allen, die psychische Gesundheit an. Und das stärker, als wie wir das bisher gehabt haben.
Wie läuft das ab?
Zusätzlich zum Stress, den ein Jugendlicher mit der Schule, Berufsausbildung etc. sowieso schon hat, muss er noch ständig am Ball der Information bleiben, die ihm seine Gruppen schicken. Und jene, die selbst auch noch posten, haben noch den Druck, perfekt rüberzukommen. Dass er schlank ist, eine coole Bekleidung trägt, ein cooles Auto hat etc.
Wir wissen aus Studien, dass sich speziell junge Frauen umso minderwertiger fühlen, je stärker sie sich dem äußeren Erscheinungsbild hingeben. Gerade jene, die auf Instagram gut aussehen, fühlen sich als zu unsportlich angezogen, als zu hässlich, als zu wenig schlank. Je mehr sie sich mit dem Thema beschäftigen, umso weniger zufrieden werden sie. Sie haben das Gefühl, das alles nicht reicht, was sie tun. Das ist ein massiver Stresspegel. Hier rede ich nicht von professionellen Influencern, sondern von 17-jährigen Mädchen, die ständig auf Social Media präsent sind.
Es gibt weltweit Versuche, hier Grenzen zu setzen und Schäden zu minimieren. In Australien beträgt das Mindestalter für die Nutzung von Instagram und Tiktok 13 Jahre. Der australische Premier will es auf 16 Jahre hinaufsetzen. Halten Sie derartige Altersgrenzen für vernünftig?
Wenn ich es rein aus psychiatrischer Sicht sehe, sage ich ja. Nicht für alle, aber für viele ist die Nutzung von sozialen Medien ungesund. Deshalb ist es richtig, sie einzuschränken. Wir wissen vom Rauchen und Alkohol, dass es für viele ungesund ist, und deshalb schränken wir es ein. Es macht Sinn, die Altersgrenze nach oben zu schieben. Je weiter nach oben, desto besser. Je mehr die jungen Menschen von ihrer psycho-sozialen Entwicklung schon erledigt haben, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie solche Dinge krank machen.
Kann man die Nutzung der sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche wirklich kontrollieren?
Das ist die Frage. Macht sich der Gesetzgeber lächerlich, wenn er das fordert? Ist es in einer Demokratie überhaupt möglich, 14-Jährige von Medien fernzuhalten, die sie sich anschauen wollen? In diesem Punkten bin ich kein Experte. Aus psychiatrischer Sicht machen Grenzen aber Sinn.
Es gibt Experten wie Joanne Orlando von der Western Sydney University, der den richtigen Umgang mit Social Media mit der Sexualität vergleicht. Die jungen Menschen müssten aufgeklärt statt mit unrealistischen Verboten belegt werden.
Das eine ist die Verfügbarkeit. Es gibt Dinge, die leicht verfügbar sind, für die die Aufklärung nicht reicht. Internet und Handy sind leicht verfügbar, denn jedes Kind hat schon ein Smartphone. Ein Kind hat noch nicht die Reife, die Impulse, die es spürt, gut regulieren zu können. Das Gehirn eines Menschen ist, rein biologisch gesehen, erst mit 25 Jahren ausgereift. Bei Frauen mit 23. Die Impulskontrolle ist rein biologisch erst mit 25 Jahren ausgereift.
Man sollte also eine Altersgrenze einführen?
Rein medizinisch gesehen ja. Es geht darum, die Verfügbarkeit einzugrenzen. Altersgrenzen sind eine Möglichkeit.
Wer soll die Verfügbarkeit einschränken? Die Eltern, der Staat?
Alle. Wenn alle etwas beitragen, hilft das. Wenn wir das nur auf eine Gruppe beschränken, wird das politisch. Manche sagen dann der Staat, die anderen sagen, das liegt in der Selbstverantwortung eines jeden Einzelnen. Die Lehrer sagen, wir sind eine Bildungsanstalt und keine Erziehungsanstalt. Alle sollen etwas dazu beitragen, die Eltern, die Schule, die Politik. Die Eltern müssten viel stärker die Smartphonezeit ihrer Kinder regulieren, auch die Inhalte. Beides ist möglich. Ich mache das selbst bei meinem Sohn. Es gibt Gratis-Apps, mit denen man das sehr gut kontrollieren kann. Nicht nur das Handy, sondern auch den PC.
Die Schüler erhalten jetzt Gratistablets in den Schulen. Wie soll damit umgegangen werden?
Die Eltern können sie nicht kontrollieren, weil sie darauf keinen Zugriff haben. Ich frage mich, warum ist das nicht möglich? Es gibt in anderen Ländern in den Schulen Störsender, sodass die Kinder zu bestimmten Zeiten nicht ins Internet können. Ich halte das für gescheit. Auch das Gesundheitssystem sollte auf dieses Problem einen viel stärkeren Fokus legen.
Auf welche Art und Weise?
Indem man mehr Angebote schafft. Wir haben in Österreich keine flächendeckenden Angebote für die Abhängigkeit von Social Media und Smartphone. Wir haben sie sehr wohl bei Alkohol und Drogen. Wir müssen als Gesellschaft viel strenger werden. Bisher war es so, dass uns riesige Konzerne riesige Angebote mit tollen Computerspielen, tollen Smartphones, tollen Social Media gemacht haben. Die Gesellschaft war 20 Jahre hinterher, um daraufzukommen, dass das nicht nur Vorteile hat, sondern auch Nachteile. Vor allem bei vulnerablen Gruppen wie Kindern und Jugendlichen.
Sollten die Gesellschaft den Konzernen gegenüber nicht restriktiver sein?
Wir sollten nicht nur Verbote gegenüber Kindern und Jugendlichen aussprechen, sondern auch gegenüber den Firmen machen, die das anbieten. Warum zwingen wir Firmen nicht zu Altersüberprüfungen? Möglich wäre es. Beim Glücksspiel machen wir das. Technisch ist das möglich.
Was passiert mit diesen Jugendlichen, wenn sie erwachsen sind?
Hier sind die Zeiträume noch zu kurz. Vor zehn Jahren hatte noch kaum ein Zehnjähriger ein Handy. heute hat fast jeder Zehnjähriger eines. Vor 20 Jahren war Social Media für keinen Jugendlichen ein Thema. Heute haben wir überall WLAN. Die Verfügbarkeit ist explodiert. Weil das so schnell gegangen ist, wissen wir alle nicht, wie diese Menschen in zehn, 20 der 30 Jahren sein werden. Jeder, der hier etwas sagt, spekuliert. Aber was wir wissen, ist, dass es eine gewisse Gruppe von Menschen krank machen kann.
Und das sich die Konsumentinnen und Konsumenten schlecht fühlen, weil sie sich mit anderen vergleichen.
Das Vergleichen ist ein Problem. Und die jungen Leute verpassen gesunde soziale Erfahrungen, weil sie nur am Handy sind. Sie sollten in der Zeit, in der sie am Handy sind, andere Erfahrungen machen. Die kleinen Kinder verpassen die Zeit am Spielplatz, die Älteren die Erfahrungen mit anderen am Sportplatz, und bei den Vereinen. Die jungen Erwachsenen das Fortgehen, das Kennenlernen von neuen Menschen, weil sie ständig auf Tiktok sind. Sie alle verpassen das Erleben eines normalen psychosozialen Umfelds, einen Teil ihrer normalen Entwicklung. Sie verpassen auch einen Teil des Familienlebens.
Die sozialen Beziehungen auf Tiktok sind meist krankhaft. Denn nur diese sind spannend. Das Normale, wie das Miteinander-Mittagessen am Sonntag und das fröhliche Plaudern verpasst man. Das ist das Problem.
Ein Problem, das von Experten auch angeführt ist, dass die jungen Menschen verlernen, mit Langeweile umzugehen, wenn sie ständig am Handy sind. Langeweile ist aber wichtig für die Entwicklung von Kreativität.
Noch viel wichtiger beim Aushalten von Langeweile ist das Aushalten von Frustration. Wenn ich im Bus sitze und muss 20 Minuten nach Hause fahren, habe kein Handy und nichts, das mich ablenkt, dann muss ich mit dieser Frustration umgehen. Die Freunde sind nicht da, ich bin hungrig, ich muss diesen Frust aushalten. Wer mit dem Handy spielt, spürt weder seinen Hunger noch seine Einsamkeit. Er lernt nicht mit den Alltagsfrustrationen, mit den kleinen Frustrationen umzugehen. Es ist aber ganz wichtig, dass Kinder Frust aushalten lernen.
Unsere Gesellschaften sind mitten in diesen Entwicklungen, kennen aber die vollständigen Auswirkungen nicht.
Sie werden keine Positiven sein. Wir wissen das Ausmaß der Katastrophe nicht, die auf uns zukommt. So ehrlich müssen wir schon sein.
Ist es tatsächlich eine Katastrophe, die auf uns zukommt?
Ich glaube schon. Wir wissen, dass immer mehr Kinder internetsüchtig werden. Das zeigen die internationalen Studien. Gleichzeitig wissen wir aufgrund der demografischen Entwicklung, dass wir immer weniger Kinder haben werden. Eigentlich müssten die wenigen Kinder, die wir haben, gesund sein, damit sie in Zukunft die Gesellschaft in jeglicher Hinsicht tragen können. Sie sind besonders wichtig, weil es eine so kleine Gruppe ist wie noch nie.
Wenn die Jungen körperlich und mental nicht gesund sind, steuern wir auf eine Katastrophe zu. Wenn wir so unbedarft weitermachen und die Konzerne mit unseren jungen Menschen so weiterspielen, werden wir auf eine Katastrophe zusteuern. Ich kann nur nicht sagen, wie groß dieses Ausmaß sein wird. Aber es wird ein Problem werden. Aus der psychischen Krankheit von Kindern wird später nichts Positives erwachsen. Die Kinder werden auch körperlich nicht fit sein. Denn wenn sie nicht mehr auf den Spielplatz und in die Sportvereine gehen, verkümmert auch der Körper.
Kommentare