"EU droht Schicksal Jugoslawiens"

"EU droht Schicksal Jugoslawiens"
Der Philosoph über die Inflation der Werte und die Entwicklung Europas.

Rudolf Burger war einer der Referenten bei den heurigen Pfingstgeprächen der ÖVP im Stift Reichersberg, die unter dem Thema standen Braucht der Wandel Werte – Brauchen Werte Wandel? Der 75-Jährige ist Philosoph und war unter anderem Rektor der Angewandten in Wien. Er bezeichnet sich selbst als "katholischen Atheisten".

KURIER: Geht Ihnen das Gerede von den Werten nicht auch manchmal auf die Nerven?

Rudolf Burger: Ja, sehr. Denn das sind Phrasen geworden. Die Menschen haben immer gewertet, aufgewertet, verwertet, bewertet, ästhetisch, moralisch. Der Wert ist ursprünglich eine ökonomische Kategorie. Er spielt eine große Rolle in der politischen Ökonomie. Bei David Ricardo, Karl Marx. Aber in der Moralphilosophie, bei der Frage, was sollen Menschen tun, spielten die Werte überhaupt keine Rolle, bis herauf in die Mitte des 19. Jahrhunderts.Weder bei Immanuel Kant noch bei Friedrich Hegel. Durch Friedrich Nietzsche wird das Reden in Werten populär. Aber bei Nietzsche ist die Wertphilosphie nur die andere Seite des Willens zur Macht. Wer Wert sagt, meldet einen Machtanspruch an. Die klassische Moralphilosophie wie die christliche hat sich auf Wahrheiten berufen. Daher ist es erstaunlich, wenn christliche Theologen plötzlich von Werten reden. Die zehn Gebote sind keine Werteempfehlung, sondern Gebote.

Der verstorbene Bischof Kurt Krenn sprach stets von Wahrheiten.

Ich musste einmal so lachen, als Krenn gesagt hat, er ist kein feministischer Theologe, kein ökologischer Theologe, er ist ein römisch-katholischer Theologe. Das kann man ablehnen, wie ich es tue, aber man muss anerkennen, dass er das sagte, was er war. Das Christentum ist sowohl in seiner katholischen chen wie in seiner evangelischen Prägung in ihren Ansprüchen ein System von Wahrheiten.

Die Wertediskussion ist eine Reaktion auf die Nihilismuskrise des 19. Jahrhunderts, darauf, das es kein normativ verbindliches Jenseits mehr gibt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte das Naturgeschehen im Volksglauben immer auch eine moralische Dimension. Der Soziologe Kitzsteiner hat geschrieben, dass der Blitzableiter im damals noch analphabetischen Volk eine viel größere aufklärerische Funktion hatte als alle philosophischen Schriften. Weil damit die Verbindung zwischen moralischem Fehlverhalten und Bestrafung durch die Natur außer Kraft gesetzt wurde. Es war nun nicht mehr der strafende Gott die Ursache, wenn der Blitz eingeschlagen hat, sondern der fehlende Blitzableiter.

Der Mensch ist nun wirklich frei. Es gibt in der Moral keine objektiven Wahrheiten. Darauf reagiert die Wertphilosophie. Wir sind es, die wertschätzen. Das schaut bei dem einen anders aus als beim anderen. Jetzt wird das immer mehr inflationiert.

Jeder spricht von Werten und tut, was ihm gefällt.

Es gibt hier den schönen Satz von Karl Marx. Wenn eine Idee auf ein Interesse stößt, ist es allemal die Idee, die sich blamiert. So ist es auch mit den Werten. Sie werden hochgehalten und dann wird das Geschäft gemacht. Ich will hier die Politiker gar nicht unter einen moralischen Korruptionsverdacht stellen. Die Gerechtigkeit ist eine Kampfparole die ganze Geschichte hindurch. Aber Gerechtigkeit bedeutete für Aristoteles ganz etwas anderes als für einen heutigen CDU-Politiker.

Was sind die Alternativen?

Man kann darauf aufmerksam machen, dass das Gerede von Werten Phrasen sind. Auf der anderen Seite wird heute notwendigerweise in Wertschätzungen gedacht. Das ist ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Denn wenn man sich um Werte streitet, dann streitet man sich wenigstens nicht mehr um Wahrheiten. Die Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert waren ein Streit um moralisch verbindliche Wahrheiten. Wenn man eine Sache wertschätzt, wird sie zugleich relativiert. Alles im politischen und moralischen Denken ist eine Frage von Proportionen. Diejenigen, die sagen, wir in Europa sind eine Wertegemeinschaft , wissen oft gar nicht, was sie sagen. Wirkliche Wertegemeinschaften waren in der jüngeren Geschichte der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Diese Werte sind uns heute nicht sympathisch, aber sie waren Wertegemeinschaften. Eine Wertegemeinschaft widerspricht an sich einer pluralistischen Gesellschaft, die verschiedene Wertungen zulässt und keine Gemeinschaft herstellt.

Themenwechsel. Welche Schlüsse ziehen Sie aus der Europawahl?

Die EU ist ein institutionalisierter Komparativ. Immer mehr, immer tiefer, immer weiter. Aber niemand sagt genau, wohin es geht. Joschka Fischer hat in seiner Rede an der Berlinder Humboldt-Universität im Jahr 2000 von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Das findet in der europäischen Bevölkerung keine Zustimmung. Alle Wahlen, bei denen über Europafragen abgestimmt worden ist, sind für die Propagandeure dieses Komparativs negativ ausgegangen. Jetzt kommen erschreckenderweise vor allem rechte Parteien und profitieren von dieser Ablehnung. Aber wen soll jemand wählen, wenn er seine Ablehnung gegenüber diesem Prozess zum Ausdruck bringt? Es gibt ja sonst nur ein Kartell von Befürwortern.

Ich bin für die EU, war aber gegen den Euro. Nichts ist in der Politik gefährlicher als eine politische Überintegration, die ihr mentales Konto überzieht. Jugoslawien war auch einmal ein Friedensprojekt und wir wissen, wie das zerfallen ist. Ich fürchte, dass das Ganze zu Großjugoslawien führt, wenn die Entwicklung so weitergeht.

Ich weiß nicht, wie man aus diesem Dilemma rauskommt. Auf der einen Seite gibt es diesen Imperativ zur Zusammenarbeit, und zwar schon allein von der ökonomischen Seite her. Auf der anderen Seite ist die Situation sehr widersprüchlich.Dass der britische Premier David Cameron gegen Juncker als Kommissionspräsident ist, kann man ihm weder formal noch moralisch vorwerfen.

Auf der einen Seite ist das Projekt der EU-Integration sehr sympathisch, auf der anderen Seite haben wir eine bedenkliche Entwicklung. Die Abstimmungen über jede wirkliche Institutionenreform werden mit Sicherheit wieder schiefgehen.

Das Projekt Europa steht?

Es kann nicht stehen, denn es lebt von seiner komparativen Dynamik des immer mehr und immer tiefer. Es knirscht immer mehr. Es wäre eine Institutionenreform notwendig, denn das Verhältnis Rat, Kommission und Parlament ist eine monströse Fehlkonstruktion, was sich jetzt beim Gerangel um den Kommissionspräsidenten gezeigt hat. Eine Institutionenrefrom wird nicht möglich sein. Die Nationalstaaten sind nach wie vor die entscheidenden Akteure. Sie spielen ihre Entscheidungen über die Bande der EU. Ich befürchte eine institutionelle Krise der EU.

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