Münkler: „Der Krieg findet in hybrider Form auch gegen Europa statt“
Herfried Münkler ist deutscher Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Der 73-Jährige lehrte als ordentlicher Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Bekannte Bücher von ihm sind „Der Dreißigjährige Krieg“ und „Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“. Dafür erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2023. Münkler war Gast der Europäischen Kulturhauptstadt in Bad Ischl und in Gmunden.
KURIER: Warum ist der Ausgang des Krieges in der Ukraine für Europa so wichtig?
Herfried Münkler: Zunächst kann man sagen, das ist am Rande Europas. Man hat ja die Ostgrenzen immer wieder verschoben. Relativ lange hat man daran festgehalten, dass die Ostgrenze am Dnjepr liegt. Später, in Reaktion auf die Westöffnung Russlands und auf die Reformen von Peter dem Großen, hat man gesagt, Ural und die Wolga. Putin hat wohl die Vorstellung, er müsse Russland in den Grenzen des Zarenreichs oder der Sowjetunion wiederherstellen.
Dabei war es die Idee von Lenin, mit der Konstruktion der kommunistischen Sowjetrepubliken das imperiale Projekt der Zaren zu beenden. Wenn Putin zu einem Russland des Zarentums zurückkehrt, dann heißt das, dass das Projekt nicht am Schwarzen und Asowschen Meer endet, sondern auch die Ostsee betrifft. Man ist mit einem auf lange Zeit angelegten Vorhaben konfrontiert, bei dem es darum geht, dass die Russen die Kontrolle von Ostmitteleuropa, wenn nicht Teilen Mitteleuropas wieder anstreben.
Das heißt, die Polen und die baltischen Staaten sind beunruhigt, weiters auch Moldau. Wenn Putin in diesem Krieg in der Ukraine, der viel länger und härter geworden ist, als er sich das anfänglich gedacht hat, relativ viel zahlen muss und er hohe Verluste hat, um möglichst wenig zu bekommen, werden er und seine Nachfolger es sich genau überlegen, ob sie dieses Projekt fortbetreiben.
Weil der Preis zu hoch ist.
Genau. Und weil auch erkennbar ist, dass Teile der russischen Gesellschaft zu dieser Politik zunehmend auf Distanz gehen. In der Frage des Wohlstands und der Lebensführung, aber auch, weil die Söhne weggenommen werden und in der Ukraine zu Tode kommen. Die demografische Reproduktionsrate in Russland ist sehr niedrig, niedriger als unsere. Der Ausweg mit den nordkoreanischen Soldaten ist schon ein Zeichen von Schwäche. Nach dem Motto, ich habe in diesem Riesenreich nicht genug Menschen, um diesen Krieg als eigene Kraft zu führen.
Der Beitrag Europas zur Unterstützung der Ukraine ist vor allem ein finanzieller. Militärisch ist er wesentlicher geringer, er kommt vornehmlich von den USA.
Die europäischen Hilfen sind unterschiedlich. Die der Polen, Skandinavier und der baltischen Staaten sind die höchsten, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt. Die der Italiener, Spanier und Franzosen am relativ niedrigsten. Die Deutschen liegen mit 0,45 Prozent im mittleren Bereich, sind aber vom Gesamtaufkommen in Europa am stärksten. Auch was die Waffenlieferungen betrifft. Die USA sind eindeutig die größten Lieferer, die Europäer liefern akkumuliert ungefähr dasselbe wie die USA. Im Prinzip müssten die Europäer in der Lage sein, bei einem Ausscheiden der USA deren Beitrag auszugleichen, denn das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist so groß wie das von Spanien. Unter dem Vorhalt der russischen Nuklearwaffen ist das Thema ein bisschen von Angst besetzt. Das betrifft vor allem die Deutschen.
Die nukleare Drohung wirkt?
Das kann man am Handeln von Bundeskanzler Scholz sehen, der sehr vorsichtig ist. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Demoskopen ständig im Kanzleramt sind und sagen, so und so viele Leute fürchten, dass ein größeres Engagement der Bundesrepublik dazu führt, dass das Land selbst zum Angriffsziel wird. Im Kreml lesen sie diese Umfragen mit und sagen, wir müssen ihnen noch mehr drohen, dann wird die Unterstützung weniger.
Der Krieg findet auch in hybrider Form gegen Europa statt. Und längst auch in der Kollektivpsyche der europäischen Bevölkerung. Wenn die russische Seite lernt, sie muss nur eine Drohung aussprechen und dann haben die Europäer Angst, dann ist das sehr bedenklich. Das begreifen eine Reihe von Politikern nicht besonders gut, dass die russische Seite hier lernt, wie sie die Europäer kostengünstig ins Bockshorn jagen kann. Beim Einsatz dieser neuen Rakete, die Haselnussstrauch genannt worden ist, ist sogleich mitkommuniziert worden, man könnte sie gegen Europa einsetzen.
Das ist natürlich global betrachtet ein Quatsch, weil Xi Jinping, der wichtigste Verbündete Putins, Nein gesagt hat.
Die Europäer müssen ihre Rüstung ausbauen. Es gibt nun einen EU-Verteidigungskommissar. Die Westeuropäische Union ist aber lediglich ein Papiertiger, die Verteidigung läuft nach wie vor über die NATO.
Das hat zwei Gründe. Nur mit den USA sind wirkliche nukleare Abschreckungskapazitäten vorhanden. Die Franzosen haben zwar die Force de Frappe, sie ist aber so gedacht, dass sie ein Instrument zur Verteidigung des französischen Territoriums und nicht Europas ist. Die Briten haben interessante Zweitschlagskapazitäten, weil sie U-Boote haben, aber sie sind zahlenmäßig zu gering.
Es gibt aber einen zweiten, wichtigeren Punkt. Wenn sich die USA aus der NATO zurückziehen würden, stellt sich die Frage, wer dann die Führungsmacht wäre. Damit tauchen wieder die Rivalitäten der europäischen Geschichte auf.
Was ist mit den Briten?
Wenn die Briten mitmachen, könnte man die NATO in ein westeuropäisches Verteidigungsbündnis umbauen. Man könnte auch den Namen beibehalten, wenn die Kanadier nicht ausscheiden.
Die Europäer müssten also zwei Fragen beantworten: Wie organisieren sie die Führung? Und wie sind sie in der Lage, auf die nuklearen Drohungen aus Moskau zu reagieren?
Die Antwort sollte ebenfalls nuklear sein.
Es muss eine nukleare Abschreckungskomponente sein.
Die fehlende Zusammenarbeit im Rüstungsbereich ist ein Defizit der EU. Andere sind das Einstimmigkeitsprinzip und die ungeklärte Zukunft des Westbalkans.
Der Westbalkan ist ein nachhaltiges Problem, weil er ein geopolitischer Raum sein könnte, den die Russen als Trittstein benutzen. Albanien ist da besonders interessant, weil es Häfen in der Adria hat, die es russischen Kriegsschiffen zur Verfügung stellen könnte. Damit würde sich die gesamte geostrategische Lage im Mittelmeer verändern.
Die Europäische Union kann die sechs Staaten des Westbalkans unter den Bedingungen des Einstimmigkeitsprinzips nicht aufnehmen. Es ist im Augenblick nicht erkennbar, wie das Einstimmigkeitsprinzip fallen soll. Die potenziellen Veto-Spieler wie Orban werden sich natürlich nicht selbst entmannen, um der EU eine Freude zumachen.
Das kann man vielleicht lösen, indem man sagt, dass die drei Staaten des Weimarer Dreieckes, Berlin, Paris, Warschau plus ein, zwei Staaten des Südens wie Spanien oder Italien dazunehmen. Und wenn sich die Briten auch noch anschließen, dann hätte man sechs Akteure. Sie ziehen die Fragen der Sicherheitspolitik und letzten Endes die Fragen einer wirklich nachhaltigen und durchsetzungsfähigen Außenpolitik an sich.
Das wäre eine mögliche Lösung für die Sicherheitspolitik.
Das ist an sich nichts Erstaunliches, denn die EU ist ein Kreis aus Kreisen, eine Ellipse aus Ellipsen. Da gibt es den Schengenraum, den Euroraum, sie sind alle nicht kongruent. Diese sechs Staaten könnten vereinbaren, wir entscheiden nur nach dem Mehrheitsprinzip, damit man keinen Vetospieler dabei hat. Dann hätte man einen Hebel, der das Einstimmigkeitsprinzip marginalisiert, sodass es keine Rolle mehr spielt.
Die Briten sahen die EU primär als Wirtschaftsunion. Jetzt, wo die EU mit 27 Mitgliedern so groß ist und noch umfassender werden soll, hat diese Konzeption auch etwas für sich.
Als Kostgänger der amerikanischen Sicherheitsgarantien konnte man natürlich sagen, wir beschränken uns darauf, eine Wirtschaftsunion zu sein, wir akkumulieren den Wohlstand und überlassen die Frage der Sicherheit der NATO. Nun ist dieses Modell vorbei. Die Wende fand schon unter Barack Obama statt, die Konzentration der USA auf den indopazifischen Raum galt als die eigentliche Herausforderung.
Das kann natürlich auch dazu führen, dass die Briten unter Premier Starmer wieder eine schrittweise Annäherung an Europa betreiben. Nigel Farage hat bei seinem Agieren für den Brexit immer wieder das Argument ins Spiel gebracht, wenn wir einmal aus der Europäischen Union draußen sind, sind wir wieder ein imperialer Akteur. Das war natürlich ein Quatsch. Das sind postimperiale Phantomschmerzen in melancholischer Form. Bei Putin in aggressiver Form. Bei Ungarn in symbolischer Form, wenn Orban mit dem Großungarn-Schal herumläuft. Bei Erdogan und der türkischen AKP könnte das eine Wiederholung des Putin-Projektes in kleiner Form werden.
In so einer Situation ist es naheliegend, dass man in Europa zusammenrückt. Wir sind ein Raum des Friedens und Wohlstands. Es geht darum, den Frieden und den Wohlstand mit eigenen Fähigkeiten zu sichern.
In der Wohlstandsfrage ist eher China die Herausforderung.
Wie sollten die Europäer mit China umgehen?
Donald Trump will alle chinesischen Produkte mit Strafzöllen belegen. Die Europäer sind dadurch gezwungen zu reagieren, wenn sie nicht zum Aufnahmebereich hochsubventionierter chinesischer Produkte werden wollen und in Gefahr geraten, ihre Autoproduktion und den Maschinenbau zu verlieren. Man muss aber versuchen, mit den Chinesen in Verhandlungen zu bleiben. Und China nicht unter dem Aspekt der Strafzölle und der Abschottung zu behandeln. Denn das würde zu einer Entkoppelung der chinesischen Ökonomie von der europäischen führen. Man könnte dann nicht mehr darauf vertrauen, dass Xi Jinping Putin daran hindert, bestimmte Sachen zu machen.
Das zeigt, wie diffizil und komplex das alles zusammenhängt. Dass es gute Gründe gibt zu sagen, wir versuchen den Wettlauf mit den Chinesen auszuhalten. Wir sind zwar nur die Hälfte der chinesischen Bevölkerung ...
... aber ein wirtschaftlich wichtiger Markt.
Der interessanteste Markt, den es gibt. Wenn wir uns ein bisschen am Riemen reißen, sind wir technologisch nach wie vor ein führender Akteur. Konkurrenz ist wichtig, das gehört zur Grund-DNA liberaler Ordnungen. Dann hätten die Amis das Problem, dass sie mit einer national-protektionistischen Politik allein dastehen würden. Und mit Sorge sehen, dass ein Kraftzentrum Europa-China statt eines China-Amerika entstehen würde. Das wäre strategisch das Naheliegende. Die Frage ist, ob man das hinbekommt.
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