Gauck: „Es braucht kämpferische Toleranz“

Joachim Gauck bei seiner Rede vor den 1500 Gästen der Oberbank
Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck sieht in der Furcht vor der Moderne und der Freiheit die Ursache für extreme Haltungen.

Joachim Gauck ist evangelischer Theologe und war von 2012 bis 2017 deutscher Bundespräsident. Der 79-Jährige war Gastredner beim Neujahrsempfang der Oberbank. Hier seine 32-minütige Rede in gekürzter Form.

„Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrzehnts, das sich mit allerhand Unsicherheiten angekündigt hat. Wir leben in einem Jahrzehnt eines tiefen Unbehagens im politischen Raum.

Spaltung

Was läuft da ab, welche Spaltung der Gesellschaft gibt es da? Sehen wir in unseren modernen Gesellschaften auf Dauer eine Spaltung der Menschen, die diskursfähig sind, die in Politik Wirtschaft und Kultur miteinander reden, und jenen, die zwar wählen, aber sich nicht an den grundsätzlichen Debatten beteiligen, weil sie ein anderes Vokabular, andere Lebensumstände, und andere zentrale Themen haben?

Leben in einer Schwellenzeit

Ich meine, dass wir in einer Schwellenzeit leben. Denken Sie an ganz alte Zeiten, als Kopernikus auftrat und den Zeitgenossen mitteilte, dass die Erde gar nicht im Mittelpunkt des Weltgeschehens sei, sondern die Sonne. Dieser Wandel des Selbstverständnisses hat die Menschen damals unglaublich verändert. Zu Beginn des Maschinenzeitalters waren die Leute tief verunsichert. Als die erste Eisenbahn mit etwa 30 km/h fuhr, gab es Publikationen, die sagten es sei unmöglich, dass sich Menschen an dieses atemberaubende Tempo gewöhnen könnten. Wir hatten in Deutschland einmal Wilhelm II., der gesagt hat, es kann mit dem Automobil nichts werden, er setzt auf das Pferd. Im Maschinenzeitalter kündigten sich unglaubliche technologische Fortschritte an, gleichzeitig überfiel unglaublich viele Menschen eine Furcht vor der Moderne.

Sind wir noch zu Hause?

Dieses Element der Furcht vor der Moderne taucht wieder auf. Damals haben sich die geistigen Menschen in die Romantik gerettet. Die Menschen gingen zurück in ihre Innerlichkeit. Sie fragten sich, sind wir noch zu Hause, da wo wir wohnen?

Wenn wir es uns anschauen, wie es in den Ländern Europas ausschaut, dann haben wir ebenfalls so etwas vor uns wie eine Furcht vor der Moderne. Wenn wir nur unsere überschaubaren Lebensjahrzehnte ansehen, zeigen sie Ihnen, dass uns ein Element ständig begleitet hat: der Wandel. Es gibt nichts Beständigeres als den ständigen Wandel.

Zeit der Entgrenzung

Es sind drei Faktoren, die Menschen gerade so zu schaffen machen. Einmal das Phänomen der Entgrenzung. Wir sind nicht mehr nur Österreicher, Polen, Dänen etc., sondern wir sind Europäer. Wir haben uns daran zu gewöhnen, dass bestimmte Entscheidungen nicht in unseren Landeshauptstädten gefällt werden, sondern von den Menschen, die wir nach Brüssel delegiert haben und die dann für uns alle entscheiden. Das gefällt nicht jedem. Entgrenzung ist auch ein psychisches Problem.

Zeit der Globalisierung

Zweitens: Wir leben in Zeiten der Globalisierung. Österreich und Deutschland sind Gewinner der Globalisierungsprozesse. Wir sind gut vernetzt, haben gute Produkte und stehen auf dem Weltmarkt gut da. Es gibt aber bei uns nicht nur Gewinner, sondern auch Globalisierungsverlierer. Und es gibt die Sorge, wenn wir uns international durch Freihandelsabkommen vernetzen, ob wir noch Herr unserer eigenen Geschicke sind. Es gibt aus den unterschiedlichen politischen Milieus immer wieder Kämpfe gegen Freihandelsverträge. Es gibt eine grundsätzliche Sorge, dass wir uns verlieren könnten. Dieses Gefühl, nicht mehr dort zu Hause zu sein, wo wir sind, beschleicht uns zusätzlich.

Zeit des technologischen Wandels

Das allergrößte Phänomen ist der technologische Wandel. Das, was an technologischen Möglichkeiten auf uns zukommt, ist so gewaltig, dass sich das Menschenbild grundsätzlich wandeln wird. Ein Wandel des Menschenbildes ist immer mit Ängsten verbunden. Wir wissen deshalb nicht genau, warum wir uns über die Folgen der künstlichen Intelligenz und der Robotik freuen sollen. Es ist viel leichter, die Bedenken zusammenzutragen als die Freude daran, wie viele menschliche Möglichkeiten im Bereich der Medizin, im technologischen Bereich überhaupt möglich sind.

Gauck: „Es braucht kämpferische Toleranz“

Gauck zitiert Erich Fromm

Wenn wir in die Gesellschaft schauen, begegnen wir ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen der Bevölkerung. Auf der einen Seite können sich Menschen total darüber freuen, dass neue Dimensionen erkennbar sind, dass Grenzen sich verschieben. So wie wir in Mittelosteuropa nach dem Fall der Mauer total begeistert darüber waren, was wir an Freiheit gewonnen hatten. Wenn wir uns die gefühlte Daseinswelt der Menschen aus den Ostblockländern nur zwei, drei Jahre später und auch heute noch anschauen, dann hat sich diese Freude an der Freiheit merkwürdig gewandelt. So als ob plötzlich die Welt wieder verschlossen wäre. Natürlich haben zahlreiche Bevölkerungsgruppen dafür Gründe, weil sie zum Beispiel für eine bestimmte Zeit arbeitslos wurden. Durch den Anpassungsdruck mussten sie neue Berufe erlernen, neu durchstarten, Arbeitslosigkeit aushalten. Selbst als diese Phase überwunden war, gab es noch so etwas wie eine kulturelle Fremdheit.

Wahl zwischen vertraut und fremd

Im Osten äußerte sich das wahlmäßig dadurch, dass an den Extremen plötzlich viele Stimmen landeten. Zuerst bei den Linken, dann bei den ganz Rechten. Diese Haltung hat mich als Ossi natürlich total geärgert und ich habe mich gefragt, woher kommt denn das? Warum wählen sie mit nennenswerten Prozenten die postkommunistische Partei, die sie doch loswerden wollten?

Eines Tages treffe ich eine Frau aus meiner alten Rostocker Gemeinde, die eine sehr oppositionelle Jugendliche gewesen ist und die in den Westen gegangen wäre, wenn es möglich gewesen wäre. Wir hatten Wahlen gehabt und ich fragte sie, was hast Du denn gewählt? Sie antwortete, die PDS, die postkommunistische Partei. Ich sagte, was ist denn jetzt los? „Ich fühlte mich so heimatlos“, sagte sie. Ich habe gedacht, ich spinne, ich habe angefangen, sie zu veräppeln, das war ein schwerer Fehler. Sie sprach über Gefühle und ich konnte in diesem Moment nicht positiv darauf eingehen.

Nostalgische Rückwendung

Als ich nach Hause ging, ist mir eingefallen, was los war. Sie hat nicht gewählt zwischen richtig und falsch, zwischen rechts oder links, sie hat gewählt zwischen vertraut und fremd. Plötzlich fiel mir ein, dass vieles im Verhalten von Menschen in Transformationsgesellschaften, die nostalgische Rückwendung, nichts mit Ideologie und Anhänglichkeit an Kommunismus zu hat, sondern mit Verbindung zu Lebensformen, an die man gewöhnt war. Und mit der Fremdheit gegenüber Lebensformen, die man nicht erlernt hatte.

Langwirkendes Gift

Plötzlich konnte ich meinen Zorn und meine Wut verwandeln. Ich wurde zwar traurig, weil ich spürte, wie lange die Schatten der Diktatur sind. Die Befestigung von Übermacht der Herrschenden ist ein ganz widerwärtiges und langwirkendes Gift, das von diesen undemokratischen Zeiten ausgeht. Deshalb verdienen die Menschen, die jetzt in solchen Transformationsgesellschaften leben, unsere Unterstützung.

Verantwortungsfähigkeit

Wie kann diese aussehen? Je mehr man imstande ist, sich selbst einzubringen, die eigene Kraft und die eigene Verantwortungsfähigkeit zu trainieren, desto mehr wirst du Teil der Gesellschaft. Und die Fremdheit schwindet.

Toleranz

Das ostdeutsche Wandlungsphänomen einer Transformationsgesellschaft führt mich hin zum Unbehagen, das Teile der Gesellschaft gegenüber der Moderne haben, gegenüber den universellen Werten, gegenüber Entgrenzungsphänomenen. Bei meinem Buch über Toleranz bin ich auf Studien aus dem angelsächsischen Raum gestoßen. Da haben Soziologen und andere Wissenschafter in 28 europäischen Ländern festgestellt, dass 33 Prozent der Bevölkerung ausgestattet sind mit so etwas wie einer autoritären Disposition, mit einer kernkonservativen Grundhaltung. In den USA sind es nicht 33, sondern 44 Prozent. Die Forscherin, eine Australierin, sagt, dieser Befund stellt nicht ein Übel dar. Wenn ein anderer Teil der Gesellschaft sich die Chancen des Wandels ausmalt, wird dieser Teil der Gesellschaft die Sorge haben, dass er schlecht ist. Wenn der eine Teil sich über die Möglichkeiten des Wandels freut, wird der andere Teil sagen, oh, das ist gefährlich. Diese Forscherin sagt, haltet jene, die so verfasst sind, dass sie ein grundkonservatives Bedürfnis haben, nicht automatisch für Demokratiefeinde.

Lauter Nazis?

Für mich war das unglaublich wichtig, weil wir in Deutschland in einer Debatte sind, wo viele sagen die AfD, die erstmals im Bundestag ist, besteht aus lauter Nazis, das sind alles Faschisten und Demokratiefeinde. Da verfestigen sich die Lager so ähnlich wie in den USA, wo die einen mit den anderen gar nicht mehr reden. Sie empfinden sich nicht mehr als Gegner, sondern als Feinde. Ich möchte nicht, dass wir in solchen Spaltungen landen.

Kämpferische Toleranz

Ich habe früher gedacht, ich habe grundsätzlich einen liberalen Ansatz, sagen wir so, ich bin ein linker liberaler Konservativer (lacht). Aufgrund der Befunde habe ich mir gedacht, ich muss wohl einen etwas weiteren Toleranzbegriff entwickeln, um jene, die ich nicht mag, dennoch als Teil der Gesellschaft zu sehen. Wäre demnach Toleranz auch Streit? Ich habe mich durchgerungen zu sagen ja. Es gibt auch so etwas wie kämpferische Toleranz. Toleranz heißt nicht mögen, sondern zu ertragen. Ich muss manchmal Dinge ertragen, die ich politisch ablehne. Also muss ich eine Verhaltensweise entwickeln, die nicht Zustimmung, Wegschauen oder Duldung ist. Ich will auch gewinnen. Kämpferische Toleranz.

Vorbild Bayern

Wenn ich in Polen, Tschechien oder in den Tiefen Ostdeutschlands bin und dort das Gefühl entsteht, dass das Zuhause zerstört wird, habe ich ein wunderbares Beispiel. Das ist Bayern. Dieses Bundesland ist ganz stark geprägt von den Traditionen der bayerischen Stämme. Sie leben und pflegen ihren Dialekt, sie haben ihre Trachten, sie sind total bayerisch, dazu noch katholisch, und gleichzeitig sind sie ein modernes Volk. Sie sind bayerisch, europäisch und weltoffen.

Die Frucht des verbotenen Baumes

Im Buch „Furcht vor der Freiheit“ beschreibt Erich Fromm den Menschen als jemanden, der ständig in Sehnsucht ist, frei und unabhängig zu sein. Adam und Eva dürfen von allen Bäumen essen, nur von nicht vom Baum der Erkenntnis, denn der ist Gott vorbehalten. Der Psychologe sagt, das ist der Beginn der Freiheit. Der Mensch befreit sich vom göttlichen Gebot, etwas Neues ist angebrochen.

Schlechte Gefühle

Dann sagt Fromm, schauen wir einmal den nächsten Tag an. Wo ist der Mensch da? Er ist außerhalb des Paradieses, er hat schlechte Gefühle, er fürchtet sich vor der Zukunft, er weiß nicht warum er da ist, er ist nackt und findet das merkwürdig. Er hat nichts zu Essen und fragt sich, wie komme ich durch den Tag?

Schmerz des verlassenen Paradieses

Er wird sich immer zurücksehnen nach dem Raum, in dem alles gefügt war und er alles hatte. Er wird diese Rückkehr sein Leben lang nicht ermöglichen können. Die einzige Weise, wie er jetzt fertig werden kann mit dem ausgesetzt sein in der Freiheit, ist, die Möglichkeiten, die in ihm gelegen sind, zu nutzen, diese wunderbare Gabe, selbst Verantwortung zu übernehmen und mit dem Mitgeschöpf zusammen für den morgigen Tag zu sorgen. In der Haltung des Daseins für sich selbst und für den anderen würde er den Schmerz des verlassenen Paradieses, diese Furcht vor der Freiheit bannen können. Und er würde ein Ermächtigter werden.“

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