"Politisierung des Islam durch die Globalisierung"

Schuh: „Man will unsere Art von Geldgesellschaft überall auf der Welt etabliert haben. Dafür sind viele Menschen auf der Welt weder vorbereitet, noch haben sie Lust darauf“ .
Erster Weltkrieg, Krieg in der Ukraine, Kriege im Nahen Osten. Angesichts der Vorgänge in der Welt rät der Schriftsteller zu einer skeptischen Sicht der Dinge. Nur sie würde zu Erkenntnissen beflügeln.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren war ein Hauptthema der diesjährigen Salzkammergut Festwochen Gmunden. Franz Schuh (67) hat den Themenschwerpunkt programmiert und unter das Zitat Also sie ham uns den Ferdinand erschlagen aus dem Stück Der brave Soldat Schwejk (Autor Jaroslav Hašek) gestellt. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Essayisten, dessen neues Buch Sämtliche Leidenschaften im Verlag Zsolnay erscheint. Schuh hat neben vielen anderen Preisen 2011 den Österreichischen Kunstpreis für Literatur erhalten.

KURIER: Der Historiker Christopher Clark hat in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele gemeint, die EU wäre eine richtige Antwort auf den Ersten Weltkrieg. Was ist Ihre Moral von der Gschicht?Franz Schuh:Was ist die Moral von Clark? Als bewanderter Historiker weiß er, dass der Pessimismus eine self fulfilling prophecy ist. Wenn man annimmt, dass das Gute, das die Menschen in der Geschichte doch auch hervorgebracht haben, nicht funktionieren würde, dann wird diese Annahme Teil einer Motivierung, das Gute nie ins Werk zu setzen. Clark weiß genau, dass man den Aufschwung, das Geglückte ansprechen muss und dass man nicht davor erschrecken darf, dass in der EU die Anti-EU-Parteien einen fürchterlichen Erfolg haben. Wenn man festlegt, dass die EU eh nichts ist, ist das ein Teil des Grundes dafür, dass die EU eines Tages eh nichts mehr sein wird. Daher kommt nach meiner Auffassung Clarks empathische, übertrieben starke Affirmation der EU.

Der Mensch lernt also doch aus der Geschichte, soweit man die Geschehnisse der Vergangenheit auf das Heute umlegen kann?

Das ist die Frage, die der vereinfachenden Optimismus-Pessimismus-Dichotomie zugrunde liegt. Ich neige zur alten Auffassung, dass die Menschen aus der Geschichte nur lernen, dass sie aus ihr nichts gelernt haben. Bei Karl Kraus heißt es: "Der Menschheit wird die Kugel bei einem Ohr hinein und beim anderen herausgegangen sein." Und der Optimist im Drama erklärt, dass er einer bleiben wird, denn "die Völker werden durch Schaden ... " Da fällt ihm der Nörgler ins Wort: " ... dumm. Dumdum!"

Dum-Dum-Geschoße sind besonders effizient. Menschen lernen aus der Geschichte vor allem, wenn an einer bestimmten Strategie Freund und Feind ausgeblutet sind. Dann lernen sie, dass es vielleicht günstiger wäre, anders zu agieren.

Zum Beispiel nach den Kriegen der Nazis.

Nach ihrer Herrschaft war die deutsch-österreichische Bewältigungsstrategie "kommunikatives Beschweigen", wie das Hermann Lübbe genannt hat. Um die ganze Chose wieder aufzubauen, hat man tun müssen oder tun wollen, was für einen Moralisten unerträglich ist: Man hat alles gewusst und über nichts geredet. Hätte man darüber geredet, hätte man sich entweder erschlagen oder es wäre niemals zu einer gemeinschaftlichen Anstrengung gekommen.

Eine wichtige Vorstellung ist, dass es mit der Reinigung nicht funktioniert. Die Katharsis ist eine ästhetische Leistung. Sie funktioniert politisch nicht. Hätte man nach Hitler gesagt , die Nazis müsste man alle umbringen, damit durch die grausame Reinigung die Leute endlich verstehen, was eigentlich geschehen ist – es hätte nicht funktioniert. Um neu anzufangen, muss man Teile des Sumpfes weiterleben lassen. Der ersten Regierung Kreiskys haben mehr Nazis angehört als jener von Seyß-Inquart. Das war eine Strategie.

Kreisky hat sich gesagt – und das ist meiner Meinung nach auch das Geheimnis seiner Nähe zu Friedrich Peter –, man muss die Alt-Nazis zu den Töpfen führen, damit sie sich vollschlagen können und dann weniger beweglich sind. Man baut das Ressentiment – auf das Jörg Haider später bauen konnte – durch Partizipation, durch Teilhabe an der Macht, ab. Moralisch ist das unerträglich, aber es ist eine der politisch eingespielten Möglichkeiten.

Vor dem Ersten Weltkrieg hat die intellektuelle Prominenz an ein reinigendes Trauma geglaubt. Veritable Geistesriesen wie Robert Musil haben gesagt, wir wollen doch die Sch..., die wir jetzt haben, nicht noch weiter haben. Die Reinigungsfantasien sind gefährlich. Reinigung funktioniert weder vor einem Krieg, im Krieg noch nach dem Krieg.

Da sie aber nicht passiert, besteht das Risiko immer, dass Gespenster plötzlich wieder erscheinen. Wir haben heute wieder Antisemitismus, wir haben wieder Kriegslüsternheit, wir haben wieder das, was Christopher Clark die Thukydides-Falle nennt: Durch das Entstehen einer neuen Supermacht gerät die Balance der Mächte außer Kraft. Die Gefahr besteht, dass entlang der verlorenen Machtbalance wieder aggressive Handlungen gesetzt werden.

Sie sehen im Entstehen des Nationalismus Ende des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch positive Aspekte. Der eigene Staat wurde von den Völkern als Befreiung gesehen von der Unterdrückung des Reiches. Es gibt manche, die die EU als neues Reich sehen und mit dem römischen Kaiserreich deutscher Nation vergleichen, wo starke Kurfürsten wesentlich mitregiert haben.

Darauf passt die Politikerantwort: Ich will mich an Spekulationen nicht beteiligen. Es gibt eine unbegrenzte Deutungsindustrie: An jeder Ecke und an jedem Ende steht einer und deutet die Verhältnisse. Jetzt deute ich! Es ist ein Kunstwerk, zwischen der Beschränktheit durch die eigene Herkunft und den eigenen Möglichkeiten einerseits und andererseits durch die Unbeschränktheit der geistigen Tätigkeit, des Denkens, sich zurechtzufinden.

Ob die EU ein Reich ist, hängt davon ab, ob sie imperialistisch agiert. Das heißt, selbstbezogen, unterdrückend und intransparent. Ein Imperium im Sinne einer die Staaten übergreifenden Macht, die für alle anderen die Regeln vorgibt, ist die EU nicht. Siehe ihren Dilettantismus in der Ukraine.

Fragt man die Griechen, werden sie vermutlich sagen, die EU ist imperialistisch.

Jeder hat eine Meinung, dass irgendwas was ist. Das heißt noch lange nicht, dass etwas das ist, von dem irgendwer die Meinung hat, das wäre es. Es ist eine komplexe Aufgabe zu eruieren, was etwas ist. Einige Russen sagen, die EU ist ein dekadenter Haufen, mit dem wir uns doch gar nicht abgeben. Ist die EU deswegen ein dekadenter Haufen, weil einige Russen sich mit ihr nicht abgeben?

Wo wird die Europäische Union enden? Als Vereinigte Staaten von Europa, wie der ehemalige deutsche Außenminister und Grüne Joschka Fischer meint? Oder als Staatenbund?

Kein Einziger, hat Canetti geschrieben, kann sagen, was und wie das nächste Jahrhundert wird, aber immerhin wird’s eins. Wir sind in unserem Leben in eine desorientierende Dialektik eingesperrt. Das betrifft auch den Nationalismus. Um den Nationalismus zu verhindern, erzeugt die EU unwillkürlich Nationalismus – am Beispiel der Maut: Plötzlich bekämpfen einander Deutsche und Österreicher.

Es ist eine wichtige Frage, wo die EU endet. In der Ukraine wurde es uns realpolitisch vor Augen geführt. Man dachte eine offene Weltordnung, in die alle hineinpassen: Auch die Ukraine in die EU! Je mehr an Ländern man aber integriert, desto wahrscheinlicher ist der Verlust an Stabilität. Je größer die Zusammenhänge sind, umso gefährlicher werden Ereignisse, die am Rande passieren.

Das Hauptproblem ist, ich zitiere wieder Clark, dass Konfliktherde entstehen, die eigentlich Randkonflikte sind, in die aber Großmächte involviert sind.

Gleichzeitig stehen wir der Politisierung der Religion gegenüber. Dass zum Beispiel der Islam Militanz in dem Ausmaß mobilisieren kann, das ist mit meinem komischen 1970er-Jahre-Weltgefühl überhaupt nicht koordinierbar.

Was verstehen Sie unter politischem Islam? Die IS, die in Syrien und im Irak wütet?

Ich rede von der Politisierung der Religion im allgemeinen. Man darf nicht vergessen, dass auch Ex-US-Präsident George Bush jun. mit dem evangelikalen Christentum verbunden war.

Beim politischen Islam gibt es viele, gegenläufige Strömungen. Die einfachste Differenz ist wohl die zwischen Sunniten und Schiiten. Man bringt einander um, weil man jeweils dem anderen religiösen Lager angehört. Tod den Andersgläubigen – und erst recht den Ungläubigen!

Gleichzeitig bekämpfen diese Strömungen die Globalisierung. Globalisierung heißt, dass das sogenannte "westliche" System sich auf die ganze Welt ausdehnt. Gruppierungen, die in diesem System nichts gewinnen können, weil sie die wesentlichen Kulturtechniken nicht beherrschen und auch nicht lernen wollen, greifen auf das Einzige zurück, das ihnen Selbstbewusstsein gibt: auf die Religion. So entsteht die Politisierung des Islams durch die Globalisierung, die die liberalen Kräfte durchzusetzen versuchen.

Das ist auch so eine teuflische Dialektik. Man will unsere Art von Geldgesellschaft überall etabliert haben. Dafür sind viele Menschen auf der Welt weder vorbereitet noch haben sie Lust darauf. Sie müssen zu anderen Formen des Selbstbewusstseins greifen, und daraus entstehen Konflikte auf Leben und Tod.

Beeinträchtigt der politische Islam unser Leben hier in Europa?

Vieles mag in Europa funktionieren, aber eines mit Sicherheit nicht: das beziehungslose Nebeneinanderleben. Der Gedanke, dass jeder sein Steckenpferd reiten soll, ist ein vernünftiger liberaler Gedanke. Es ist aber ebenso misslungen, wie die Reinigung misslingt.

Man müsste sehr stark sein, um die Beziehungslosigkeit auszuhalten, um in Beziehungslosigkeit glücklich zu sein, um mit einer Welt als Muslim einverstanden zu sein, die die muslimischen Werte nicht teilt. Diese Stärke haben die meisten Eingewanderten nicht. Also igeln sie sich stillschweigend ein oder sie werden laut aggressiv – oder beides.

Auf der anderen Seite entsteht dann Islamophobie. Man beginnt, die Leute wegen ihrer Religion zu hassen. Die Utopie des beziehungslosen Nebeneinanders ist am Ende.

Das heißt, es kommt zu Konflikten.

Ja, bevor es aber dazu kommt, steht man einander im Wege. Die einen wollen das, die anderen wollen etwas ganz anderes, das Zusammenleben will kaum einer. Ich bin nach wie vor der Meinung, die sich als falsch herausgestellt hat – aber manchmal hält man an Irrlehren fest –, dass die Korrumpierung durch den Konsumismus am ehestens eine Chance für das sogenannte friedliche Zusammenleben wäre. Wenn der materielle Fortschritt beide Gruppen in diese Wellness-Ideologie einhüllt, dann trocknet man den Sumpf des Extremismus aus. Mein Vater, der Kommunist war, erinnerte sich später, als er kein Kommunist mehr war, immer mit Schrecken daran, wie sehr er "die Kapitalisten" gehasst hat.

Aber durch die Teilhabe am materiellen Wohlstand wird der Extremismus zerstört. Für die extremistischen Bewegungen ist es daher enorm wichtig, den materiellen Fortschritt und die daraus folgenden Bequemlichkeiten als Dekadenz zu denunzieren.

Der Wohlstand entschärft den Konflikt?

Wenn er angenommen werden kann, dann entschärft er. Wenn er aber nicht angenommen wird, produziert er das Gegenteil, nämlich einen wütenden Hass auf jene, die haben.

Und man behauptet, man gehört nicht zu jenen, die haben, sondern die das Sein vertreten.

Die Differenz zwischen Haben und Sein wird dann zu einer kriegerischen Motivation.

Ihre Sicht ist eine pessimistische?

Das ist eine Falschmeldung. Nach unseren historischen Erfahrungen sollte man aber immer mitbedenken, dass alles katastrophal ausgehen kann. Etwas anderes als Skepsis beflügelt unsere Erkenntnis nicht. Ich glaube nicht, dass Begeisterung für das eine oder das andere System einsichtsvoll macht. Man sollte das Gefühl kultivieren, dass es schlecht ausgehen kann, vielleicht auch, damit es gut ausgeht.

Falls man blindwütig in die Begeisterung hineinläuft, dann passiert es, dass man Obama den Friedensnobelpreis überreicht, und er muss, mit dem Friedensnobelpreis in der Tasche, einen Krieg nach dem anderen führen.

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