„Es ist, als wohne man am Friedhof“
Wochen nach der Befreiung der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen im Mai 1945 rollten Pferdegespanne durch die Gänge zwischen den Baracken. Bauern stapften durch den Morast und mussten Tote aufladen – als eine Art „Erziehungsmaßnahme", erklärt Mauthausen-Guide und Archivar Bernhard Mühleder.
Diese Szenen sind fast 70 Jahre her. In Gusen sei in dieser Zeit nicht nur Gras über die Sache gewachsen, sondern eine ganze Siedlung. Heute säumen schmucke Einfamilienhäuser selbigen Weg. Der ehemalige Appellplatz ist asphaltiertes Firmengelände, statt Maschinengewehren rattern Rasenmäher und die Schreie stammen bestenfalls von spielenden Kindern.
Fragmente der NS-Vergangenheit sind im Alltag der Bevölkerung derart verwurzelt, dass sie kaum mehr wahrgenommen werden – bis jemand mit dem Finger darauf zeigt. Wann immer sich Mühleder mit Besuchern auf Spurensuche begibt, seien ihm die Blicke von Anrainern, die hinter den Fenstervorhängen hervorlugen, sicher. „Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Erinnern und dem Leben im Hier und Jetzt", erklärt er. Eine Gratwanderung, die nicht immer elegant zu gelingen scheint: Die Todesstiege, wo KZ-Häftlinge schwere Steine aus dem Wiener Graben hinaufschleppten und oft tot zusammenbrachen, sei zum Beispiel eine beliebte Jogger-Etappe geworden.
Klima aus Angst
„Es ist, als lebe man neben einem Friedhof", sagt der Seniorwirt des Gasthofs Kreuzmühle. Er erinnert sich nur dunkel an die Schreie und an den Gestank, die der Wind damals in die Gaststube wehte. Eines weiß er aber noch genau: „Ich war als Dreijähriger schon bei der SS." Dieser deftigen Aussage fügt er erklärend hinzu: „Wenn die Mama in der Küche drawig war, hat sie mich den SSlern zum Aufpassen gegeben." Ganz normale, nette Männer seien das gewesen. Einer davon war nach dem Krieg sogar sein Freund geworden. Martin Roth war in Mauthausen für die Gaskammern zuständig und bis zu seinem Tod 2003 Stammgast in der Kreuzmühle. Besonders viel über die Arbeit habe er aber nie geredet.
Wie viele Zeitzeugen betont auch der Wirt, es sei damals „eine andere Zeit" gewesen. Eine Zeit, in der ein Klima aus Angst die bittere Armut der Zwischenkriegszeit ablöste. „Wer sagt, er hätte nichts von dem Massenmord gewusst, lügt. Jeder wusste es, aber die eigene Haut war einem näher als die armen Menschen im KZ."
Buchtipp: „Gesternstadt“
Wie soll man an einem Ort glücklich werden, an dem sich so viel Leid zugetragen hat? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Schriftsteller Johannes Epple in seinem Roman „Gesternstadt" (Labor-Verlag, 19,95 Euro). Der 30-Jährige ist in Langenstein in direkter Nachbarschaft mit den ehemaligen Konzentrationslagern Mauthausen und Gusen aufgewachsen. „Ich wollte diesem Ort eine Stimme geben", sagt er. Oft sei die Bevölkerung als ignorant abgestempelt worden, weil sie ihren Alltag an diesem geschichtsträchtigen Ort scheinbar bedenkenlos meistern.
In „Gesternstadt" begleitet der Autor drei junge Menschen auf den Spuren der Vergangenheit und zeigt ihren Zugang zum Glücklichsein. „Die Augen zu schließen, hilft dabei jedenfalls nicht."
Kommentare