„Wir brauchen Kurskorrekturen“

Wird uns die Globalisierung zu anstrengend? Der Bayer Alois Glück will Heimatverbundenheit und Weltoffenheit verbinden.
Der Präsident der deutschen Katholiken hält unsere Art zu leben für nicht zukunftsfähig

Alois Glück (74) war Präsident des Bayerischen Landtages und ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Kürzlich referierte er beim Neujahrsempfang der ÖVP.

KURIER: Sie sagen, dass unsere Art zu leben nicht zukunftsfähig ist. Wir erarbeiten nicht mehr, was das Leben kostet. Die Zahl der kranken Menschen nehme beständig zu. Das ist doch ziemlich revolutionär.
Alois Glück: Das lässt sich an vielen Fakten feststellen. Die Gesellschaft hat über Jahrzehnte eine hervorragende Entwicklung genommen. Aber dieser Weg ist ausgereizt, es sind Veränderungen und Weiterentwicklungen notwendig. Ökonomisch leben wir mit ständiger Neuverschuldung. Wir können unseren Lebensstandard in weiten Bereichen nur auf Kosten der Zukunft aufrecht erhalten. Ein großes Problem sind die sozialen Sicherungssysteme. In Deutschland haben wir einen enormen Rückstau in der Infrastruktur und den Verkehrssystemen. Trotz Steuereingängen wie noch nie wissen wir nicht, woher wir das Geld dafür nehmen sollen. Auch im ökologischen Bereich ist es offensichtlich. Immer mehr Menschen verkraften die Anforderungen unserer Art zu leben nicht mehr.
Ein Indikator dieser Entwicklung ist, dass die Zahl der psychisch Kranken ständig steigt, weil sie mit der Geschwindigkeit und dieser Art von Anforderungen nicht mehr zurecht kommen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte waren in vieler Beziehung großartig, es ist aber auch vieles aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalb brauchen wir Korrekturen.

Wie sollen diese aussehen?
Wir müssen gesellschaftlich eine Debatte führen, was uns auf Dauer wichtig ist. Wie wollen wir morgen leben? Wir müssen dabei unsere Maßstäbe überdenken. Sind wir bereit, nicht nur unsere Interessen als Maßstab zu nehmen, sondern Entscheidungen zu treffen, die auch langfristig gut sind? Dann ist der Maßstab nicht mehr nur, was für uns momentan gut ist, sondern ebenso die Auswirkungen auf unsere Nachkommen und die Menschen in anderen Erdteilen. Einen Teil unseres günstigen Konsums haben wir, weil Menschen in anderen Teilen der Erde ausgebeutet werden. Die Grundsatzfrage ist ethischer Natur. Die Zeit des immer höher und schneller ist vorbei. Denn es ängstigt die Menschen mehr als es sie fasziniert. Fortschritt für Morgen, zeitgemäßer Fortschritt heißt technisch-wissenschaftlicher Fortschritt für die bessere Nutzung der Ressourcen und der Energie.

Es hat einmal eine Zeit gegeben, in denen die Eltern gesagt haben, den Kindern soll es besser gehen.
Dieser Vorsatz ist ja für uns realisiert worden. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt hat soziale Durchlässigkeit gebracht, er hat Entfaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten gebracht, die früher unvorstellbar waren. Da ist etwas Großartiges gelungen. Heute haben wir die Situation, dass die soziale Durchlässigkeit immer weniger gegeben ist. Das war das große Fortschrittsversprechen der vergangenen Jahre und es war tatsächlich ein Fortschritt. Wir hatten in den vergangenen Jahren nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen humanen Fortschritt. Das sage ich bewusst an die Adresse der Kulturpessimisten im konservativen und kirchlichen Bereich. Gerechtigkeit ist ein zentraler Maßstab geworden, das war sie vorher nicht. Früher hatte man hat sich abgefunden mit den vorhandenen sozialen Schichtungen und man hat so getan als wären sie gottgewollt.
Aber wir sind jetzt an einem Scheitelpunkt, wo sich die Fortschreibung der bisherigen Erfolgslinie als nicht mehr möglich erweist. Ohne eine solche Einsicht unterziehen wir uns nicht einer Kurskorrektur. Es stellt sich dabei die alte Frage, wollen wir den Wandel gestalten oder wollen wir ihn erleiden.
Wir haben die demographischen Entwicklungen schon 30 Jahre lang verdrängt. Wir hätten vielmehr Gestaltungsmöglichkeiten gehabt, wenn wir sie früher akzeptiert hätten.

Sie sagen, mit Moralisieren können wir die Kinderzahl nicht verändern? Wie können wir sie verändern?
Es müssen die Lebensbedingungen für Familien verändert werden. Wir haben eine Arbeitswelt, die immer nur von den Eltern Anpassung verlangt. Ich darf das mit der Umweltpolitik vergleichen. Sie war zu Beginn der 1970er Jahre nur Reparaturpolitik. Wirklich etwas verändern konnten wir ab dem Zeitpunkt, als wir den Umweltschutz ins Planungsbüro transferiert haben. Zum Beispiel in die Konstruktion der Autos. Mit derselben Verständlichkeit müssen wir bei der Planungen in der Arbeitswelt, bei der Planung von Siedlungen, Verkehrssystemen etc. mitdenken, wie sich das auf die Lebenssituation von Familien auswirkt. Das Kindeswohl muss zum zentralen Thema der Familienpolitik werden. Wir haben eine ständig steigende Zahl von verhaltensauffälligen und -gestörten Kindern. Wir gehen aber nicht der Frage nach, warum das so ist.

Sie stellen die Frage, ob uns die Globalisierung zu anstrengend wird. Ist das der Fall?
Es ist Realität, dass wir immer mehr eine international Schicksalsgemeinschaft werden. Das zeigt sich sich bei Krisen und Katastrophen. Wir rücken als Völker enger zusammen. Gleichzeitig erleben wir einen Prozess der Entfremdungen. Beispiele: Mit den ökonomischen Krisen haben wir ganz schnell gemerkt, wie alte Vorurteile in Europa ganz schnell wieder Konjunktur kriegen. Zuwanderung: Die Angst vor den Fremden, die Überbetonung der eigenen Identität, die Angst vor den Fremden. Die Globalisierung ist nicht nur ein ökonomischer Prozess, wo wir auf der Gewinnerseite sind, sondern es werden immer stärker soziale und kulturelle Spannungen spürbar. Als Gegenströmung haben wir die Angst vor dem Identitätsverlust. Es geht um Heimatverbundenheit und Weltoffenheit. Es geht nicht um Abschottung. Die Bildungsherausforderung besteht darin, die Dinge miteinander zu verbinden. Wir sind in einer neuen Etappe der Schicksalsgemeinschaft Welt.

Die römisch-katholische Kirche hat mit Franziskus einen neuen Papst, der ganz anders agiert als sein Vorgänger Benedikt XVI.
Papst Franziskus ist geprägt aus einer ganz anderen Lebenserfahrung wie wir Europäer. In der Kirche passiert hier nun etwas, was sonst schon lange im Zuge der Globalisierung im Gange ist. Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt. Franziskus bringt eine andere Erfahrungswelt ein. Der zweite Punkt ist, dass dieser Papst als Seelsorger denkt. Er denkt vom Menschen her. Es geht ihm nicht darum, die Menschen für die Kirche zu vereinnahmen. Seine Grundposition ist, wir sind für die Menschen da. Die Botschaft Jesu ist für die Menschen. Er hat im Vorkonklave die drastische Formulierung einer um sich selbst kreisenden Kirche gewählt. Er sagt, Kirche ist kein Selbstzweck. Das ist im Selbstverständnis eine wesentliche Umorientierung.

Reformbewegungen fordern die Abschaffung des Zölibats und die Priesterweihe für die Frauen. Welche Veränderungen darf man erwarten?
Dieser Papst ist ein Pionier für eine angstfreie Kommunikation in der Kirche. Die Revitalisierung der Kirche kann nicht durch Einzelentscheidungen passieren. Die Kirche muss zuerst in sich eine neue Lebendigkeit entwickeln. Dieser Papst hat schon in der Art und Weise, wie er Themen anspricht, eine befreiende Wirkung. Dieser Papst ist nicht bequem, sondern er verkörpert eine Radikalität in den Konsequenzen und in seiner persönlichen Haltung. Glaube heißt für ihn vor allem, den Glauben im Leben durch entsprechendes Verhalten und Handeln gegenüber anderen Menschen realisieren. Er will engagierte Christen. Er setzt in der Kirche neue Kräfte frei. Ich glaube, es wird zu Änderungen kommen bei den Fragen von wiederverheirateten Geschiedenen und dem Zugang zu Sakramenten. Bei einigen Veränderungen braucht es Zeit, denn Veränderungen müssen auch wachsen. Mir gefällt es, dass der Papst nicht einfach von oben herab Entscheidungen trifft, sondern in Kollegialität mit den Bischöfen beraten und entscheiden will.

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