„60 bis 70 Prozent der Kündigungen kommen erst“
Die Industrie ist wegen der Rezession in Alarmstimmung und baut Arbeitsplätze ab. Ein Gespräch mit Joachim Haindl-Grutsch, der seit 2006 Geschäftsführer der Industriellenvereinigung Oberösterreich ist.
KURIER: ÖVP und FPÖ haben ähnliche Wirtschaftsprogramme. Beide Parteien fordern sowohl eine Entlastung der Betriebe als auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Also genau das, was die Industriellenvereinigung fordert. Wäre eine blau-schwarze Koalition für Ihre Organisation nicht ideal?
Joachim Haindl-Grutsch: Die Industriellenvereinigung sieht rote Linien, die eine neue Regierung nicht überschreiten darf. Diese betreffen alle Parteien, also sowohl eine Koalition von Blau-Schwarz als auch eine schwarz-rot-pinke. Bei Blau-Schwarz funktioniert im Wirtschaftsprogramm vieles gut und schneller, dafür gibt es außenpolitisch, also bei der Globalisierung, der Einstellung zu Europa und zu Russland, bei den Freihandelsabkommen, der Festung Österreich, ähnlich viele Hürden wie auf der anderen Seite mit der SPÖ. Ich nenne hier die Arbeitszeitverkürzung, Vermögens- und Erbschaftssteuern, die Erhöhung der Körperschaftssteuer, die Rückgängigmachen der Arbeitszeitflexibilisierung etc.
Das Wahlergebnis ist anzuerkennen. Die Bevölkerung hat deutlich einen Mitte-rechts-Kurs gewählt. Links-liberal ist abgewählt worden.
Der ehemalige Vizekanzler und ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner hat im Interview mit dem „Standard“ gemeint, dass Industrie und die Wirtschaft keinerlei Neigung haben, eine Partei in der Regierung zu begrüßen, die für Vermögens- und Erbschaftsteuer eintritt.Hat er recht?
Das ist so. Wenn die SPÖ das einführen will, werden wir uns massiv zu Wort melden. In unserer Vorstandssitzung am 1. Oktober war die Stimmung sehr aufgeheizt. Denn die Industrie ist in einer Rezession, wir haben erhebliche Standortprobleme in Europa und noch einmal zusätzlich in Österreich und ein Wahlergebnis, das eine rasche Regierungsbildung ausschließt.
Wir bräuchten schnell ein Standortrettungspaket. Und ein Regierungsprogramm über fünf Jahre, das echte Reformen bringt. Wir haben ein Wahlergebnis, das das alles nicht hergibt.
Eine schwierige Situation.
Wir reden von der Quadratur des Kreises. Eine neue Regierung muss das Budget sanieren, bei den Kosten bremsen, die Steuern senken und sie muss bei der Innovation und Forschung Gas geben. Wenn das nicht gelingt, verschleppen wir unsere Probleme in die Zukunft, wir werden weiter nicht wachsen, die Arbeitslosigkeit wird steigen. Das, was es bisher an Personalabbau in der Industrie gegeben hat, ist noch nicht die Hälfte gewesen. 60 bis 70 Prozent kommen erst. Wir haben es noch nicht überstanden, es wird noch schlechter.
Die Koalition von ÖVP, SPÖ und Neos ist vom Gedanken getrieben, Herbert Kickl und die FPÖ von der Regierung fernzuhalten.
Irgendeine Kompromisskoalition und man agiert so weiter wie bisher macht jedenfalls keinen Sinn. Dann ist Game over. Wir haben eine Industriekrise wie seit den 1990er-Jahren nicht. Damals war es die verstaatlichte Industrie. Darauf müssen wir entsprechend reagieren.
Manuel Ferreira, Chefstratege der Zürcher Kantonalbank, sagt zur Schwäche der Industrie, dass sie eine weltweite ist. Es gebe immer wieder Zyklen, in denen Überkapazitäten aufgebaut werden. Diese müssten abgebaut werden und sind die Ursachen für die derzeitige Schwäche.
Das ist ein Teil der Wahrheit. Viele Regionen der Welt boomen wirtschaftlich. Das weltweite Wachstum beträgt 3,3 Prozent. Die USA sind gut unterwegs, China wächst „nur“ mit fünf Prozent und hat enorme Überkapazitäten. Es hat massive Probleme, zum Beispiel in der Demografie, aber es hat technologisch zu uns aufgeschlossen. Sie schicken uns nun die Autos und die Maschinen, die wir ihnen in den vergangenen 20 Jahren exportiert haben.
Aber zu einem wesentlich günstigeren Preis.
Natürlich, aber technologisch auf Augenhöhe. Die Überkapazitäten sind Nachbeben von Corona. Die Weltwirtschaft wächst, aber Europa fällt hinter die USA und Asien zurück. Wir erleben eine tektonische Plattenverschiebung. Und innerhalb Europas fallen Deutschland und Österreich zurück.
Wie sollen Europa und Österreich reagieren? Sowohl das Lohn- und Gehaltsniveau als auch die soziale Wohlfahrt sind hierzulande wesentlich höher als in China. Da werden wir uns preislich schwertun.
Das war früher auch schon immer so. Die Schweiz war immer schon sehr viel teurer, aber sie ist sehr viel besser. Sie haben Eliteunis, weltweit agierende Konzerne, sie haben einen schlanken Staat mit einer niedrigeren Steuerquote. Wir müssen um das besser werden, was wir teurer geworden sind.
Mario Draghi hat kürzlich in Brüssel den EU-Wettbewerbsbericht präsentiert. Sein ernüchterndes Fazit: Die EU muss in den nächsten Jahren jährlich 750 bis 800 Milliarden Euro investieren, um im Wettbewerb mit den USA und China aufzuholen. Es braucht europäische Konzerne, ein Schwerpunkt muss in der Digitalisierung gesetzt werden.
Es ist positiv, dass die EU erkennt, dass man keinen Green Deal ohne Industrial Deal machen kann. Der Ernst der Lage ist angekommen, wobei die Brüsseler Blase noch immer undurchlässig ist. Die Antwort darauf in der gemeinschaftlichen Verschuldung, Stichwort Eurobonds, zu sehen, ist nicht richtig.
Die Digitaluniversität in Linz wurde als Leuchtturmprojekt angekündigt, aber bisher gibt es nur ein Doktoratsstudium, das gemeinsam mit der Kepleruniversität durchgeführt wird. Von einem Leuchtturm ist weit und breit nichts zu sehen.
Ein Katapultstart sieht anders aus. Die Enttäuschung und Frustration in der Industrie ist auch groß über diesen langsamen Start. Wir stehen dem Vorhaben weiterhin positiv gegenüber, es ist aber derzeit nicht erkennbar, wie das eine Leuchtrakete werden kann. Die inhaltliche Ausrichtung ist sehr breit. Das Wort Industrie habe ich in den Kernkompetenzen der bestellten Professoren noch nicht gelesen. Die Ernüchterung ist schon erheblich.
Nun hat der Linzer Vizebürgermeister und SPÖ-Bürgermeisterkandidat Dietmar Prammer das Aus für den geplanten Standort der Digitaluniversität neben der Kepleruniversität verkündet. Das ist ein neuerlicher Rückschlag.
Der Stopp der Umwidmung durch Vizebürgermeister Prammer hat dem Projekt IT:U einen weiteren massiven Schaden zugefügt. Der geplante Standort in unmittelbarer Nähe zur Kepleruniversität hätte umfassende Synergien ermöglicht – von der Verkehrsinfrastruktur über ein gemeinsames Rechenzentrum bis zur Mitnutzung von Einrichtungen am Campus der JKU. Zusätzlich fallen auch Betriebsansiedelungen in Uninähe weg, die Innovationen, Wertschöpfung und Arbeitsplätze gebracht hätten.
Kari Ochsner, Präsident der Industriellenvereinigung Niederösterreich, hat sich für eine Erhöhung der Arbeitszeit auf 41 Stunden ausgesprochen. Ist das auch eine Forderung der oberösterreichischen Industrie?
Es ist völlig klar, dass wir mehr arbeiten müssen. Österreich wurde zur Teilzeitrepublik. Wir müssen von der Freizeitgesellschaft wieder zur Leistungsgesellschaft werden und von der Teilzeit Richtung Vollzeit kommen. Mehr arbeiten muss sich für die Menschen aber wirklich lohnen. Bei Vollzeit müssen Überstunden steuerfrei sein. Die Menschen sollten im Alter als Pensionisten freiwillig weiterarbeiten und steuerfrei dazuverdienen dürfen. In der Schweiz arbeiten die Menschen durchschnittlich 42,7 Stunden, da liegen die Benchmarks. Wir in Österreich arbeiten pro Woche fünf Stunden weniger als die Schweizer.
Bei einer Erhöhung der Arbeitszeit wird es Probleme mit den Gewerkschaften geben.
Es wird in alle Richtungen Probleme geben. Es braucht Opfer von allen Seiten. Ohne Schmerzen kriegen wir den Standort nicht auf Schiene.
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