"2030 zu wenig Arbeitskräfte"

Gerstorfer setzt auf die Themen gute Arbeit, Frauen und soziale Absicherung
Die neue SPÖ-Landesvorsitzende Birgit Gerstorfer sieht in den Frauen das Potenzial der Zukunft.

Birgit Gerstorfer ist seit zwei Wochen die neue Landesvorsitzende der oberösterreichischen Sozialdemokraten. Die bisherige Geschäftsführerin des Arbeitsmarktservice wird am Donnerstag vom Landtag zur Landesrätin für Soziales und Frauen gewählt. Die 53-Jährige lebt in Alkoven, ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.

KURIER: Bei unserem Gespräch im März haben Sie Interesse an der Position der Landesrätin gezeigt, aber gemeint, der Parteivorsitz sei nicht das Ihre. Nun haben Sie es sich anders überlegt.

Birgit Gerstorfer: Ich hatte damals auch schon Interesse, aber ich habe so getan, als ob ich reserviert wäre (lacht). Ich habe den Journalisten gegenüber nicht einen Hauch von Interesse gezeigt, dass es so sein könnte.

Sie waren damals innerlich bereits entschlossen, den Posten des Landesrates und des Parteivorsitzenden anzunehmen?

Ich war nicht entschlossen, sondern innerlich bereit.

Worauf führen Sie die hohe Zustimmungsrate zurück? Als Parteivorsitzende erhielten Sie 95 Prozent der Stimmen, als Stellvertreterin von Bundesparteiobmann Christian Kern mehr als 99 Prozent.

Das ist eine gewisse Form von Sehnsucht nach Stabilität. Es ist logisch, denn wenn lange Zeit unklare Situationen vorherrschen, ist man über klare Linien froh. Personelle Entscheidungen sind in allen Organisationen relevant, das merke ich jetzt auch im AMS.

Wie wird es im AMS weitergehen?

Mein Stellvertreter Gerhard Straßer wird sich bewerben. Und wenn er bestellt ist, wovon ich ausgehe, wird es eine Stellvertretung geben, die offen ist.

Es gibt viele Strömungen in der SPÖ, die froh sind, dass nun einmal eine Frau zum Zug gekommen ist. Mein Bekanntheitsgrad wird positiv gesehen. Dazu kommt, dass viele, die mich kennenlernen, von mir angetan sind. Ich glaube, dass ich das sagen darf.

Bis kurz vor der entscheidenden Parteivorstandssitzung gab es den Versuch von Arbeiterkammerpräsident Johann Kalliauer und vom Linzer Bürgermeister Klaus Luger, Karin Weilguny als Landesrätin und Alois Stöger als Parteivorsitzenden zu installieren. Irritiert Sie das?

Ich kann mit solchen Dingen sehr gut leben. Das ist Geschichte, die Entscheidungen sind gefallen. Ich war mein ganzes Leben nie nachtragend. Ich sage mir, es gibt bestimmte Gründe und Motive, warum Menschen so handeln wie sie handeln.

Es ist nachvollziehbar, dass man sich nicht 1000-prozentig sicher sein kann, dass ich die Beste bin, wenn man jemanden wie mich aus einer politikfremden Funktion holt. Es ist legitim, dass man nach Alternativen sucht.

Jetzt werde ich versuchen, alle Vorbehalte, die für mich nachvollziehbar sind, aus dem Weg zu räumen, indem ich eine gute Arbeit abliefere.

Ihr Vorgänger Reinhold Entholzer beklagte Im KURIER-Interview Illoyalitäten einzelner Gruppen und von Führungskräften. Er meint, die Partei müsse ihr Verhalten ändern. Wie stehen Sie dazu?

Die Partei bildet viele Interessenslagen und Gruppierungen ab. Es braucht Diskussionen und das Einbringen von Meinungen, damit man sich gut austauscht und die unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft abbildet.

Es braucht einen Auseinandersetzungsprozess, der in einer Vereinbarung mündet, hinter der alle stehen.

Was ist in der ersten Phase Ihre wichtigste Aufgabe?

Die Klärung, wie es in der Landesgeschäftsführung der SPÖ weitergeht. Das ist eine Schlüsselfunktion in der Arbeit der Partei.

Wann werden Sie diese personelle Entscheidung treffen?

Im Laufe der kommenden Woche. Der nächste Schritt ist das Abchecken der Parteistrukturen. Hier ist bereits viel passiert.

Dann müssen wir die inhaltlichen Positionen, unsere Kernthemen für die nächsten Jahre festlegen. Wir müssen sie im operativen Agieren und in den politischen Forderungen festmachen. Ende des Sommers bzw. zu Beginn des Herbst werden wir erste Positionen liefern.

Werden Sie Oppositionspolitik betreiben?

Das wird in bestimmten Themenfeldern nicht anders gehen. Bei Themen, die den Grundsätzen der Sozialdemokratie widersprechen, muss man das tun. Das muss in der SPÖ eine einheitliche Linie sein.

Was werden die Schwerpunktthemen sein? Die Arbeitslosigkeit wäre aufgrund Ihrer bisherigen Tätigkeit naheliegend.

Ich möchte es fokussieren auf das Thema gute Arbeit. Die Arbeitswelt ist in einem massiven Veränderungsprozess. Die Beschäftigungsverhältnisse verändern sich, die Arbeitszeiten entgrenzen sich, die fachlichen Voraussetzungen sind viel schnelllebiger geworden. Die Digitalisierung sorgt für massive Änderungen in der Arbeitswelt. Ich glaube aber nicht, dass wir vor einer neuen Massenarbeitslosigkeit stehen werden. Es werden neue Arbeitsfelder entstehen, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Die Veränderungen passieren, sie sind nicht vermeidbar.

Es gibt ein weiteres Thema, das mich als persönlich Betroffene beschäftigt, mich aber auch schon beim AMS beschäftigt hat. Das sind die Frauen. Sie sind das Potenzial, wenn uns die Arbeitskräfte ausgehen. Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die Betriebe noch größere Schwierigkeiten haben, Arbeitskräfte mit der notwendigen Qualifikation zu bekommen. Ab 2020 haben wir in der Bevölkerungsentwicklung einen unglaublichen Umbruch. 2016/’17 beginnt er in Oberösterreich und Kärnten. Das liegt an der sehr restriktiven Migrationspolitik in den beiden Bundesländern.

Obwohl Oberösterreich so viele Flüchtlinge aufgenommen hat?

Sie entschärfen das Problem ein bisschen, aber so viele Flüchtlinge können gar nicht kommen.

Das heißt, dass wir zu wenig Arbeitskräfte haben werden, obwohl die Arbeitslosigkeit im Mai bei 5,5 Prozent lag?

Man sieht immer nur die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung. Wir haben derzeit 930.000 Menschen, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind (Frauen bis 60). Sie sind unser Erwerbspotenzial. Von den 930.000 arbeiten 630.000. 300.000 gehen in die Schule, sind in Pension, arbeitslos oder wegen der Kinder zu Hause. 2030, das ist in 14 Jahren, werden wir aufgrund der rückläufigen Geburtenrate 22.000 junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren weniger haben. Wir werden um 35.000 weniger Menschen im Haupterwerbsalter von 25 bis 50 Jahren haben. Das sind zusammen 57.000 weniger.

Aber wir werden um 4000 mehr Menschen im Alter 50 plus haben. Davon 40.000 Frauen im Alter von 60 plus. Wegen der Anhebung des Frauenpensionsantrittsalters von 60 auf 65. Die Berechnungen der Statistik Austria ergeben, dass wir trotz der Zuwanderung eine Lücke von 17.000 weniger Beschäftigten haben werden. Das bedeutet ein Beschäftigungspotenzial von rund 910.000 Menschen.

Wenn man die Beschäftigung von heute 630.000 Menschen weiterrechnet plus einem Zuwachs von einem Prozent pro Jahr, was seit 1990 durchschnittlich der Fall ist, dann sind 2030 nur mehr 170.000 in der Schule, schon in Pension, arbeitslos oder bei den Kindern zu Hause. Wir würden eine unglaubliche starke Zuwanderung brauchen, damit das kompensiert wird. Wir haben diese Zuwanderung aber nicht. Es gibt nur eine Gruppe, die quantitativ das bewältigen können: die Frauen. Sie haben eine um zehn Prozent niedrigere Erwerbsquote als die Männer. Hier liegen wir weit hinter den skandinavischen Ländern.

Dazu kommt ein weiteres Phänomen in Österreich. Die Teilzeit-beschäftigte Frau hat viel weniger Stunden als in Skandinavien. Würde jede Teilzeit-beschäftige Frau um sieben Stunden mehr arbeiten, dann hätten wir um 10.000 mehr Vollzeit-Äquivalente. Daher sind die Frauen so wichtig. Sie sind wichtig für den Arbeitsmarkt und für die Reproduktion. Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen. Darum kümmert sich die Politik viel zu wenig.

Frauen sind also das Potenzial der Zukunft. Aber es wird schwierig für sie, denn sie sollen mehr Kindern das Leben schenken und gleichzeitig mehr arbeiten.

Hier gäbe es zwei ganz einfache Lösungen: einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Jeder Staat, in dem es diesen Anspruch gibt, wie Finnland, Schweden oder Frankreich, hat eine viel höhere Erwerbsquote und eine höhere Geburtenrate pro Frau. Jede Frau, die Kinder bekommt, soll sich darauf verlassen können, dass sie ihre Berufslaufbahn fortsetzen kann. Die Organisation der Kinderbetreuung darf hier kein Stolperstein sein. Das hat eine hohe Relevanz für den Arbeitsmarkt.

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