Traiskirchen: Die Angst vor der Seuche steigt
Rund 4500 Menschen in der Erstaufnahmestelle Traiskirchen, Tausende ohne Dach über dem Kopf: Wegen der „Gefahr von Epidemien und Seuchen“ hatte Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll vergangene Woche einen Aufnahmestopp angekündigt. Montagnachmittag stellten die Juristen der zuständigen Bezirkshauptmannschaft (BH) Baden den Bescheid fertig und dem Innenministerium zu. Am Mittwoch soll er in Kraft treten.
Seuchengefahr. Eine neue Dimension in der Diskussion ums überfüllte Flüchtlingslager. Eine besorgniserregende – auch für die rund 20.000 Einwohner der Stadt. Aber wie konkret ist die Gefahr? Traten gefährliche und stark ansteckende Krankheiten zuletzt häufiger auf? Und wie läuft die Gesundheitsversorgung angesichts von Überfüllung und Obdachlosigkeit?
Restrisiko
Neun Ärzte und ein Jurist der BH haben die die Erstaufnahmestelle Traiskirchen am Donnerstag inspiziert. Ihr Schluss: Der Gesundheitszustand der Menschen ist stabil. Ein Restrisiko bleibt aber. Eine Auffassung, die auch Michael Kunze vom Institut für Sozialmedizin teilt (unten).
Fakt ist: Die Fallzahlen bei den gefährlichen Krankheiten steigen nicht parallel zur Zahl der Flüchtlinge, wie sich am Beispiel Tuberkulose (TBC) zeigt. Zuständig für meldepflichtige Erkrankungen ist ebenfalls die BH Baden. Sie verzeichnete von Jänner bis Juli 2014 28 TBC-Fälle. Im Vergleichszeitraum heuer waren es mit 26 zwei weniger – obwohl der Belagsstand im Vorjahr zwischen 800 und 1700 Menschen schwankte, heuer zwischen 1400 und 4500.
Zahlen konstant
Auch bei den Fällen von Hepatitis C und Hepatitis B bewegen sich die Zahlen im Bereich des Vorjahrs. Eine Erklärung könnte laut einem BH-Mitarbeiter sein, „dass die vielen Flüchtlinge aus Syrien in ihrer Heimat relativ lange einen guten Lebensstandard hatten und auch die medizinische Versorgung gut funktioniert hat.“
Gernot Maier, Leiter der Abteilung für Grundversorgung im Innenministerium, betonte zuletzt bei einem Medientermin in der Erstaufnahmestelle: „Die medizinische Versorgung ist gewährleistet.“ Jeder Mensch wird bei seiner Aufnahme untersucht – insbesondere auf ansteckende Krankheiten.
Stark bemerkbar macht sich die Überbelegung in Traiskirchen aber bei den Einsatzkräften und Spitälern in der Umgebung. 683 Einsätze im Lager hatte der Traiskirchner Samariterbund noch von Jänner bis Juli 2013. Heuer waren es 1048. Vor allem nachts sind die Mitarbeiter am Limit. „Früher hatten wir zwei Nacht-Einsätze pro Woche. Jetzt sind es drei bis sechs pro Nacht“, sagt Dienststellenleiter Franz Stippl.
Die meisten Patienten kommen in die Kliniken Baden und Mödling. In beiden Häusern ist die Zahl von Patienten aus der Erstaufnahmestelle um rund 50 Prozent gestiegen – sowohl stationär als auch ambulant.
Unter den Patienten sind immer mehr Schwangere: 33 Geburten von Frauen aus dem Lager verzeichnete die Station in Mödling 2014 – zwei Prozent aller Geburten. Heuer werden es doppelt so viele sein.
Gabcikovo steht
Entlastung für Traiskirchen soll – trotz eines negativen Referendums – die Unterbringung von rund 500 Menschen im slowakischen Gabcikovo bringen. Das slowakische Innenministerium sieht sich an das Ergebnis nicht gebunden. Auch in Österreich geht man davon aus, dass die Verträge halten. Vorübergehende Unterkünfte für 500 Flüchtlinge will das Rote Kreuz in den nächsten Tagen schaffen. Schon jetzt sind 1500 Menschen in Rot-Kreuz-Betreuung.
KURIER: Wie beurteilen Sie die Lage in Traiskirchen?
Michael Kunze: Ich will keine politischen Ansagen treffen. Aber für die Erkenntnis, dass die hygienischen Zustände unhaltbar sind, müsste ich nicht Medizin studiert haben.
Sie befürworten also den Aufnahmestopp mit dem Argument latenter Seuchengefahr?
Selbstverständlich ist das Argument zutreffend. Überall, wo viele Menschen auf relativ engem Raum sind, ist die Gefahr einer Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten groß – vom einfachen Schnupfen bis zur Tuberkulose. Vor allem für Krankheiten, die per Tröpfcheninfektion übertragen werden, sind das ideale Bedingungen.
Eine abstrakte Gefahr oder Anlass zu konkreter Sorge?
Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Menschen in einem solchen Lager körperlich gestresst sind, von der Flucht geschwächt, und das Schlafen im Freien hilft natürlich auch nicht.
Nach der Begehung war von einer stabilen Lage die Rede.
Auch mir scheint die Gefahr derzeit gering – insbesondere für die Bevölkerung. Die medizinische Versorgung scheint zu funktionieren. Außerdem ist Sommer. Man stelle sich nur vor, wir hätten Influenza-Zeit. Da hätten wir den schönsten Infektionsherd.
"Hier ist es viel besser“, sagt Yusra. Die 17-Jährige aus Somalia steht in der Küche einer Flüchtlingsunterkunft des Arbeitersamariterbundes in Wien-Ottakring. Gemeinsam mit Fatima (17) wäscht sie ab. Seit Freitag haben die beiden wieder ein Dach über dem Kopf. Drei Wochen lang musste Yusra in Traiskirchen auf dem Boden schlafen. Draußen, im Freien. Zwei Monate hat ihre Flucht aus Somalia gedauert. Seit Freitag hat Yusra erstmals wieder so etwas wie ein Zuhause.
Am Donnerstag hat der Samariterbund erfahren, dass er am Freitag 22 Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren aus Traiskirchen aufnehmen soll. „Wir haben über Nacht die Betreuung organisiert, Hygienepakete für die Mädchen zusammengestellt und die Unterkunft auf Vordermann gebracht“, sagt Christian Ellensohn, Leiter der Flüchtlingshilfe beim Samariterbund Wien. Die Mädchen aus Somalia, Nigeria, Afghanistan, Kamerun und Syrien wohnen jetzt jeweils zu zweit in einem Zimmer.
Vertrauen und Kritik
„Schön langsam fassen sie Vertrauen zu uns“, sagt Ellensohn. Er spart nicht mit Kritik an der Politik: „Es ist mir unerklärlich, wie man zulassen kann, dass 4000 Menschen auf einem Fleck untergebracht werden.“
Dass die Unterbringung von Flüchtlingen derart unkoordiniert vonstatten geht, ist kein Einzelfall. Schon im Mai hat das SOS Kinderdorf drei Bundesländern – Steiermark, Kärnten und Burgenland – angeboten, spontan 15 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in den bestehenden Wohngruppen des SOS Kinderdorfes unterzubringen. Eine Rückmeldung gab es nur aus Kärnten. Man werde das prüfen, hieß es. Getan hat sich nichts.
Am Montag bot das SOS Kinderdorf erneut an, 30 minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Entsprechende Schreiben gingen an die Innenministerin und acht Landeshauptleute (alle außer Vorarlberg). Darauf reagiert haben bisher nur Niederösterreich und Salzburg. In Kärnten ist der zuständige Referent auf Urlaub, in Tirol die Landesrätin. Man sei aber dahinter. „Wenn Bundeskanzler und Innenministerin beteuern, man werde in der Flüchtlingskrise weiterhin um jeden Platz ringen, appellieren wir, bei diesem Ringen das Tempo zu erhöhen“, sagt Clemens Klingan, Geschäftsleiter des SOS Kinderdorfes.
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