Bei jedem Toilettengang muss die heute 44-Jährige einen Katheter benutzen. Gerade als Kind war das für sie schwierig zu akzeptieren. „Davor habe ich mich gefürchtet. Ich dachte, das ist das Ende“, erzählt sie. Die vielen Untersuchungen und Spitalsaufenthalte hatten schwere Folgen. H. leidet an einer „komplexen Traumafolgenstörung“, sie ist arbeitsunfähig. Anspruch auf Sozialhilfe hat sie trotzdem nicht. Dafür müsste sie ihre pensionierte, kranke Mutter auf Unterhalt klagen. Und das will sie nicht.
Finanzieller Unterhalt für volljährige Beeinträchtigte gefordert
So wie H. geht es immer mehr Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Zunehmend fordern Sozialbehörden, dass auch lange volljährige Betroffene finanziellen Unterhalt gerichtlich einfordern – sogar dann, wenn die Eltern selbst pflegebedürftig oder invalide sind. Da geht es um Summen von bis zu mehr als 500 Euro, die die Eltern plötzlich leisten müssten. Weigern sich Betroffene, vor Gericht zu gehen, werden ihnen die Leistungen um mehrere Hundert Euro oder sogar zur Gänze gekürzt, sagt Norbert Krammer, Bereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz.
Eigentlich sei das Thema gesetzlich immer schon so geregelt gewesen, sagt der Experte. „Aber es war oft totes Recht.“ Das habe sich mit dem neuen Sozialhilfegrundsatzgesetz, das 2019 eingeführt wurde, geändert. Mit den Ausführungsgesetzen, die nun in den einzelnen Bundesländern in Kraft treten, müssen diese Unterhaltsforderungen vollzogen werden, sagt Krammer. Auch wenn es zuletzt kleine Verbesserungen bei der Sozialhilfe gab. Besonders strenge Maßstäbe würden NÖ, OÖ und das Burgenland anlegen. In Wien, so Krammer, sei man nachsichtiger. Ebenso wie in Salzburg, Tirol und der Steiermark.
Für den Verein VertretungsNetz ist klar, dass dieses Vorgehen der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht. „Ich glaube, dass die Tragweite des Handelns nicht gesehen wird“, sagt Krammer.
„Nicht leistungsfähig“
Für H. etwa ist die gesamte Situation sehr belastend. Nach dem Gymnasium begann sie Biologie zu studieren. Genetikerin wollte sie werden. Dann begannen die Probleme. „Ich hatte dann ein Burn-out und vorher viele körperliche Schmerzen. Ich war einfach nicht mehr leistungsfähig“, erinnert sie sich. Erst mit 33 schaffte sie es, daheim auszuziehen und ein eigenständiges Leben mit ehrenamtlichen Tätigkeiten und Arbeit in einer Tagesstruktur für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu beginnen. In Wien wurde H. die Sozialhilfe ausgezahlt.
Doch als ihre 76-jährige Mutter krank wurde, wollte die Frau zurück in ihre Nähe nach Niederösterreich ziehen. Am Sozialamt ihres Heimatbezirks folgte die Ernüchterung: „Ich dachte, ich bekomme auch Sozialhilfe. Da wurde ich aber gleich aufgeklärt, dass es das nicht spielt.“ Sie habe die Info erhalten, dass das Gericht über die Höhe des Unterhalts entscheide. „Das war ein schockierendes Ergebnis, dass ich meine Mutter so viel Geld koste.“
„Entwürdigend“
Denn das Gesetz, sagt Experte Krammer, sei zwar sehr streng, aber auch sehr ungenau formuliert. Man müsse an Unterhalt geltend machen, was angemessen und zumutbar ist. Welcher Betrag das sein soll, stellen die Gerichte von Fall zu Fall fest. Das führt zu Fällen, bei denen der Unterhalt bei Pensionierung der Eltern plötzlich verdoppelt wurde oder Betroffenen vom Gericht Erwachsenenvertreter beigestellt wurden, die das Geld dann einforderten. Ganze Familien seien laut Experten daran zerbrochen.
„Entwürdigend“ findet Krammer das Vorgehen. Das gesamte Unterhaltsrecht gehöre reformiert, fordert VertretungsNetz. Und der Unterhalt müsse bis zum 25. Lebensjahr begrenzt werden, sagt Krammer. In Deutschland wurde hier mit dem Angehörigenentlastungsgesetz, das keinen Unterhalt bis zu einem Einkommen von 100.000 Euro pro Jahr vorsieht, bereits gegengesteuert. Vom Sozialministerium gab es auf Anfrage keine Stellungnahme.
Den Wunsch vom selbstständigen Leben gab H. auf, aktuell zieht sie wieder bei ihrer Mama ein. Sie lebt nun von einer Halbwaisenpension und der erhöhten Familienbeihilfe. „Ich habe eigentlich gar keine Träume mehr“, sagt sie. Außer einen vielleicht: einmal im Waldviertel leben.
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