Eltern auf den Barrikaden: Straftäter bleiben in Schulen unerkannt

Am 9. Oktober kam es zum Cobra-Einsatz am Polytechnikum in Wiener Neustadt.
Nach Fall in Wiener Neustadt: Gesetzeslage ist für betroffene Eltern und Lehrkräfte ein "massives Sicherheitsrisiko".

Zehn Menschen starben vergangenen Juni bei einem Amoklauf im Grazer Gymnasium Dreischützengasse. Politiker jeder Couleur gelobten nach der Tat sofortige Reformen und weitreichende Sicherheitsmaßnahmen – für alle Schulen des Landes.

Wie ein aktueller Fall aus Niederösterreich zeigt, liegt in Sachen Sicherheit an den Schulen immer noch vieles im Argen. Elternvertreter und Lehrkräfte aus zwei Wiener Neustädter Schulen machen auf massive Missstände und ein Behördenversagen im Zusammenhang mit einer gewalttätigen Teenie-Bande aufmerksam. Die schockierende Erkenntnis: "Der Täterschutz steht über dem Opferschutz“, prangert die Gruppe an.

Keine Info bei U-Haft

Wie die Causa zeigt, werden Schulen generell nicht darüber in Kenntnis gesetzt, wenn gegen straffällig gewordene Schüler ermittelt wird, oder sie in U-Haft sitzen. So geschehen ist dies im Oktober in Wiener Neustadt, nachdem zwei amtsbekannte Jugendliche (14 und 15 Jahre) einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Tankstelle begangen haben sollen.

Einer der Verdächtigen stellte sich der Polizei. Die Teenies saßen 14 Tage in U-Haft und kehrten danach an ihre Schulen zurück, als ob nichts gewesen wäre. "Die Schulen erfuhren offiziell nichts von der schweren Straftat. Erst durch Medienberichte kamen Gerüchte auf“, heißt es vonseiten betroffener Eltern und Lehrer. Die straffälligen Jugendlichen verschleierten die U-Haft, sie gaben an krank gewesen zu sein.

Die Landespolizeidirektion Niederösterreich und die Justiz bestätigen genau das, was Eltern und Lehrer sprachlos macht. "Es ist gerade für Eltern von Mitschülern vermutlich unverständlich, aber es gilt auch die Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten zu wahren“, heißt es aus der Landespolizeidirektion.

Mehr als 6 Monate Haft nötig

Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) regelt in Paragraf 33 genau, wann Bildungseinrichtungen über straffällig gewordene Jugendliche informiert werden müssen oder dürfen. Damit das eintritt, müssen sie schon einiges verbrochen haben. "Es braucht eine rechtskräftige Verurteilung zu einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe“, erklärt die Vizepräsidentin des Landesgerichts Wiener Neustadt, Birgit Borns.

"Bis zu einer Verurteilung gilt für jede Person die Unschuldsvermutung. Außerdem haben wir im Zweifel immer für den Angeklagten zu entscheiden. Daher bedarf es einer rechtskräftigen Verurteilung, bevor die Schulen informiert werden dürfen“, erläutert Borns.

Die beiden tatverdächtigen Räuber gehören einer Clique an, die ständig mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Einer ihrer Rädelsführer ist ein bekannter Systemsprenger, also ein Teenager, den weder die Eltern noch die Schule oder die Kinder- und Jugendhilfe im Griff haben. Auch die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hinterbrühl (KJPP) konnte nicht helfen.

Prozess brachte Details ans Licht

Der Gerichtsprozess gegen den 14-Jährigen vor wenigen Tagen am Landesgericht Wiener Neustadt hat die ganze Tragweite des (schul)behördlichen "Systemversagens“ ans Licht gebracht, wie Eltern anprangern.

Der Jugendliche wurde zu acht Monaten Haft, sechs davon bedingt verurteilt. Der 14-Jährige war am 9. Oktober von Cobra-Beamten im Polytechnikum überwältigt worden, nachdem er mit einem Fleischermesser mit 15 cm Klingenlänge im Hosenbund den Direktor in ein Eck gedrängt und ihm gedroht hatte, ihn zu "beseitigen“.

Wie man im Prozess erfuhr, kämpften die Schule und der Direktor zuvor wochenlang gegen bürokratische Windmühlen. Trotz zahlreicher Übergriffe gegen Mitschüler, unentschuldigtem Fernbleiben, Drohanrufen und einem positiven Drogentest gelang es der Schule nicht, die Behörden und Bildungsdirektion von der Gefährlichkeit des Schülers zu überzeugen.

Auszug aus dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft gegen den 14-Jährigen.

Auszug aus dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft gegen den 14-Jährigen.

Ausschluss erst im zweiten Anlauf

Nach einer Attacke auf einen Mitschüler und dem Versuch, vom Opfer Geld zu erpressen, zog die Schule die Reißleine und stellte einen Suspendierungsantrag. Dieser wurde von der Bildungsdirektion abgelehnt, weil sich der Übergriff auf dem Schulweg und nicht im Schulgebäude ereignete.

Einen Tag später marschierte der 14-Jährige mit dem Messer in die Schule. Zumindest das veranlasste die Schulbehörde, dem Schulausschlussverfahren im zweiten Anlauf zuzustimmen.
Nachdem der 14-Jährige bereits wenige Tage nach seinem Prozess wieder auf freien Fuß gesetzt wurde (die U-Haft wurde ihm angerechnet), beschäftigte der Teenager rasch wieder Polizei und Behörden.

Annäherungsverbot

Um seine Opfer zu schützen, wurde ein Betretungs- und Annäherungsverbot verhängt. Dagegen soll der Verdächtige verstoßen haben. Kurioserweise zählt dies aber nicht als Verstoß gegen die Bewährungsauflagen, sondern wird lediglich mit einer Verwaltungsstrafe geahndet.

Viele Verbesserungsvorschläge

Die Lehrkräfte an den betroffenen Schulen treten für Reformen ein: beispielsweise eine Lockerung des Datenschutzes, um eine durchgehende Dokumentation von Schülern während ihrer gesamten Bildungslaufbahn zu erhalten. "Das wäre nicht nur bei disziplinären Problemen hilfreich, sondern bei jeglicher Art von Problemen, die eine besondere Unterstützung erfordern“, heißt es. So etwas würde auch eine zielgerichtete Förderung von Schülern sofort nach einem Schulwechsel erleichtern.

Keine Stigmatisierung

Die Maßnahmen sollen "nicht zu einer Stigmatisierung verhaltensauffälliger Schüler führen", sondern eine durchgängige, transparente Betreuung von Teenagern ermöglich - mit Unterstützung von schulpsychologischen Einrichtungen, Jugendämtern, der Exekutive und Institutionen für "fremduntergebrachte Schüler".

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