NÖ: Es wird so viel gebaut wie nie zuvor
„Vor eineinhalb Jahren“, sagt Johannes Wild, „wäre es noch undenkbar gewesen, dass Einfamilienhäuser im Waldviertel innerhalb von ein bis drei Tagen verkauft werden, doch Corona hat vieles verändert.“
Wild ist Fachgruppenobmann der Sparte Immobilien- und Vermögenstreuhänder in der Wirtschaftskammer Niederösterreich. Er beobachtet einen Immobilienmarkt, in dem im vergangenen Jahr einiges in Bewegung geraten ist. „Die Nachfrage nach Wohnraum außerhalb von Wien und auch in den weiter entfernten Regionen in Niederösterreich hat Corona-bedingt stark angezogen“, berichtet Wild. Die Erklärung: Der Wunsch der Kunden nach mehr Freiflächen, grüner Umgebung und mehr Wohnfläche ist deutlich gestiegen.
Durchschnittlich 79,5 Quadratmeter Wohnnutzfläche in Niederösterreich stehen 64,2 Quadratmetern in Wien gegenüber. Bei den Freiflächen gibt es ebenfalls Unterschiede, auch wenn diese deutlich weniger ausgeprägt sind. Laut einer Studie des Fachverbandes, die mittels der Bauträgerdatenbank „Exploreal“ erstellt wurde, besitzen 97 Prozent der errichteten Wohneinheiten in NÖ einen Balkon, Loggia, Terrasse oder Garten. In der Bundeshauptstadt sind es immerhin 91 Prozent. „Für eine Großstadt ist dieser Prozentsatz äußerst bemerkenswert“, betont Michael Pisecky, Obmann der Wiener Fachgruppe der Immobilien- und Vermögenstreuhänder.
Eine große Rolle bei den „Wanderbewegungen“ zwischen den Bundesländern spielt natürlich auch der Faktor Geld. In Wien liegt der Preis für eine durchschnittlich acht Quadratmeter kleinere Eigentumswohnung um rund ein Fünftel höher als in NÖ. Um der Nachfrage gerechnet zu werden, wurde im auch flächenmäßig größten Bundesland Österreichs so viel gebaut wie noch nie zuvor. Mit 7.900 fertiggestellten Wohneinheiten wurde im Vorjahr die höchste Neubauleistung überhaupt verzeichnet. Allerdings war bereits das Jahr 2019 mit 6.200 neuen Wohnungen ein starkes Jahr, für 2021 wird ein ähnliches Volumen erwartet. Besonders viele Projekte zum bestehenden Bestand an Wohnungen sind übrigens in St. Pölten und in Wiener Neustadt hinzugekommen.
Druck auf die Mieten
In Wien wird 2022 die höchste Bauleistung erwartet. Eine Entwicklung, die Folgen haben könnte. „Wir sehen am Markt, dass der Bedarf bereits gesättigt ist und derzeit das Angebot stärker steigt, als die Nachfrage. Damit kommt es zu einem Druck auf die Mieten in Wien, vor allem in den Flächenbezirken, wo viel gebaut wurde“, erklärt Pisecky.
Der Boom hat aber noch weitere Schattenseiten. Diese sehen selbst jene, die eigentlich von dieser Entwicklung profitieren. „Wir bauen in die falsche Richtung, wir bauen in Niederösterreich und Wien zu viel auf der grünen Wiese, anstatt in den Städten neuen Wohnraum zu schaffen“, sagt Pisecky.
Analysiert haben die Experten auch, wer in der Ostregion besonders intensiv baut. Und auch hier gibt es durchaus auffällige Unterschiede. „In Niederösterreich werden 58 Prozent der Projekte von gemeinnützigen Bauträgern errichtet, während es in Wien 32 Prozent sind. Je näher zur Bundeshauptstadt und in den regionalen Ballungsräumen, desto höher ist der Anteil der gewerblichen Bauträger“, weiß Bernd Rießland vom Verband Gemeinnütziger Bauträger (GBV).
Interessant: Mittlerweile werden von Bauträgern auch fixfertige Einfamilienhäuser angeboten. In den USA etwa seit jeher üblich, bei uns noch ein neuer Trend. Der Häuslbauer könnte also zu einmal der Vergangenheit angehören.
In einem neuen Report warnt die Umweltschutzorganisation WWF Österreich vor den Folgen der Verbauung und Versiegelung wertvollen Bodens. Mit dem aktuellen Bodenverbrauch von über 13 Hektar pro Tag wird alle zehn Jahre die Fläche Wiens neu verbaut, so die WWF-Prognose im Bericht. Demnach ist das Nachhaltigkeitsziel von maximal 2,5 Hektar Bodenverbrauch pro Tag bis 2010 seither um über 42.000 Hektar überschritten worden, hieß es.„Die extreme Verbauung zerstört unsere Umwelt, beschleunigt die Klimakrise und belastet die Gesundheit der Menschen“, sagte WWF-Programmleiterin Hanna Simons. Daher müsse Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch heuer einen eigenen Bodenschutz-Gipfel auf höchster politischer Ebene einberufen, um dieses Problem zu lösen. „Alles andere wäre geradezu fahrlässig“, so Simons.
Der Flächenfraß könnte nach der Corona-Krise zudem weiter explodieren, befürchtete Simons. Der WWF forderte daher im Zuge eines 15-Punkte-Plans einen Bodenschutzvertrag von Bund und Ländern, um den Flächenfraß bis 2030 auf maximal einen Hektar pro Tag zu reduzieren. „Besonders wichtig sind die komplette Ökologisierung der Raumordnung und des Steuersystems sowie eine große Naturschutz-Offensive“, meinte Simons. Dem Report zufolge ist fast ein Fünftel der bewohnbaren oder landwirtschaftlich geeigneten Fläche Österreichs bereits verbaut.
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