"Der böse Wolf ist ein Märchen"
Der erste Blickkontakt ist zurückhaltend, fast schüchtern. Vom berüchtigten Raubtier, das Rotkäppchen, die sieben Geißlein und verirrte Wanderer auf dem Speiseplan hat, ist wenig zu bemerken. Das soll der sprichwörtlich "böse" Wolf sein? Die Tiere, denen ich hier im Forschungszentrum Ernstbrunn (Weinviertel, NÖ) Aug in Aug gegenübersitze, vermitteln eher den Eindruck von etwas schüchternen Schoßhunden. Zugegeben, es handelt sich um vier Monate alte Jungtiere, aber der eiskalte Killer hinter dem Babyface müsste doch schon irgendwie erkennbar sein.
"Den bösen Wolf gibt es nicht, das ist ein Märchen", sagt dazu Christina Mayer. Sie ist Trainerin im Wolf Science Center (WSC) in Ernstbrunn und genaue Kennerin der wölfischen Psyche. "Wölfe haben eine fast schon genetisch bedingte Scheu vor Menschen. Denn alle, die keine Scheu hatten, gab es bald nicht mehr." Wurden die Raubtiere doch jahrhundertelang verfolgt und vor mehr als 100 Jahren in Österreich ausgerottet.
Aug in Aug
Seit 2008 gibt es sie im Weinviertel wieder, wenn auch in großen Gehegen. Und man kann sie sogar besuchen. Wie der Name schon besagt, wird am Wolfsforschungszentrum vor allem geforscht, aber "die Wölfe müssen für ihren Unterhalt auch etwas arbeiten", sagt Mayer scherzend. Diese Arbeit besteht im Tourismus, im Kontakt mit den Besuchern. Wie kaum irgendwo sonst, kann man hier mit den Raubtieren auf Tuchfühlung gehen.
Die jüngsten Stars des WSC sind fünf Jungwölfe, die im Mai und Juni aus Kanada und Russland ins Weinviertel gekommen sind. Mit ihnen stehen 17 "Forschungswölfe" zur Verfügung, deren Verhalten beobachtet und mit dem von 17 Haushunden verglichen wird.
Bis sie in die Rudel integriert werden, genießen die Jungwölfe noch ihr Leben im "Kindergarten". Doch schon jetzt präsentieren sie sich als unterschiedliche Persönlichkeiten: Die zierliche Taima, eine schwarze Wölfin aus Russland, verschwindet gleich einmal hinter einem Baum, um dann nach einigen Minuten vorsichtig zurückzukehren und auf dem Schoß ihrer Betreuerin Zuflucht zu suchen. Ein anderer Wolf scheint den Besuch einfach aussitzen zu wollen, stellt sich schlafend und öffnet nur ab und zu ein Auge, um zu sehen, ob ich noch immer da bin. Der Kanadier Etu hingegen kennt keine Furcht, schnuppert die Kamera ab und gibt seiner Betreuerin dann einen herzhaften Schmatz. "Bei Etu hat es sich von Anfang an gezeigt, dass er ein forscher Wolf ist. Dafür fürchtet er sich vor langen Foto-Objektiven. Sie sind alle ganz unterschiedliche Charaktere", schildert Christina Mayer. Um auch gleich auf die Verhaltensregeln einzugehen, die man im hautnahen Umgang mit den Wölfen beachten sollte.
"Nicht anstarren"
"Wölfe sind keine Hunde und werden es nie sein", erklärt Mayer, auch wenn die Tiere wie im WSC von klein auf an Menschen gewöhnt sind. Obwohl hier sämtliche Wölfe von Hand aufgezogen werden, sind sie trotzdem keine Haustiere. "Ihren bekannten Menschen vertrauen sie, an neue Menschen müssen sie sich aber erst gewöhnen." Also, einmal abwarten, ruhig verhalten, die Interaktion vom Wolf ausgehen lassen. Augenkontakt ist kein Problem, anstarren sollte man die Wölfe aber nicht. Nicht vorrangig, weil es gefährlich werden könnte, sondern weil der Kontakt dann recht rasch wieder beendet ist. "Der Wolf wird weglaufen, denn Wölfe sind Fluchttiere. Ein Unterschied zum Hund, denn die können in dieser Situation auch die Konfrontation suchen", sagt Mayer. Ein weiterer Unterschied: Dem Wolf nie von oben herab kommen. Streicheln nur von der Seite, nicht über ihn drüberbeugen.
Forschungsarbeit
Das WSC bietet Interessierten Besuche direkt in den Rudeln an, bei denen man sich bis zu einer Stunde auf Tuchfühlung mit den Tieren begibt oder auch Spaziergänge, bei denen man einen Wolf begleitet, der an der Leine "Gassi" geführt wird. Termine für beides sind erst wieder für 2017 möglich, aber bereits jetzt buchbar. Außerdem gibt es Foto-Workshops. Die Reaktionen der Besucher? "Fast alle sind von dem Kontakt mit dem Wolf hellauf begeistert. Auch wenn es keine Garantie gibt, dass sie sich angreifen lassen oder Pfote geben. Viele sind aber auch überrascht, welche Forschung wir hier betreiben", sagt Mayer.
Wissenschaftliche Tests finden bereits früh statt, schon wenige Wochen alte Welpen werden genau beobachtet, etwa wie sie auf neue Objekte wie ein Spielzeugauto reagieren. Später wird es komplexer, die Tiere arbeiten sogar am Computer. So sollen die Wölfe, aber auch die Hunde, mit der Nase ein Bild auf einem Touchscreen anstupsen, das als positiv definiert ist – wofür es eine Belohnung gibt. Manche sind wahre "Computerfreaks". Oder aber es gilt, sich die Box mit dem Leckerli zu merken. Die Faszination, die der Wolf mit oder ohne Schafspelz auf Menschen ausübt, ist jedenfalls unbestritten.
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