Auszeit von der Krankheit: Ein Café, dass die Demenz vergessen lässt
Christine Haltau und ihre Tochter Barbara Rauch-Haltau genießen die Zeit im Café
Der Tisch ist an diesem Nachmittag im Advent weihnachtlich gedeckt, Tannenreisig und Efeu schlängeln sich über die Mitte, Kerzen und Lichterketten leuchten um die Wette. Es riecht nach Punsch, Keksen und Kuchen.
Die ersten Gäste treffen ein, meist in Zweiergrüppchen. Eltern und Kinder, Paare. Ein Herr alleine. Barbara Rauch-Haltau hilft ihrer Mutter aus dem Mantel. "Danke, danke“, sagt die 77-Jährige. Sie wird diese Worte an dem Nachmittag noch oft wiederholen. Die beiden suchen sich einen Platz, mit Punsch in der Hand wird "Leise rieselt der Schnee“ angestimmt. Die Runde ist textsicher.
Gehirntraining und Aktivierungsprogramm
Was wirkt, wie ein vorweihnachtliches Adventkränzchen ist in Wirklichkeit ein Treffen mit ernstem Hintergrund. Im Café Zeitreise der Caritas in Wiener Neustadt kommen ein Mal im Monat an Demenz erkrankte Menschen samt ihren Angehörigen zusammen. Während die Betroffenen von Gehirntraining und einem Aktivierungsprogramm – etwa basteln oder Ballspielen mit einer eigenen Aktivtrainerin – profitieren, können sich die Angehörigen austauschen. Denn die Demenz betrifft nicht nur die Erkrankten selbst.
Rauch-Haltau besucht mit ihrer Mutter seit zwei Jahren die Treffen, die es auch an 21 weiteren Standorten gibt. 2018 wurde bei Christine Haltau Demenz diagnostiziert. "Am Anfang ist die Orientierung schlechter geworden“, erzählt ihre Tochter. "Dann hat der Neurologe die Diagnose gestellt.“
Bei vorweihnachtlichem Ambiente werden Lieder gesungen und Gedichte gelesen
Hilfe annehmen
Für Rauch-Haltau, die selbst im Pflegebereich arbeitet und deren Tante bereits an Demenz gestorben ist, war klar: sie schaffen das. Schwierig sei es aber für ihren Vater gewesen. Hilfe habe er anfangs kaum annehmen wollen. Zu sehen, wie die Frau, mit der er sein ganzes Leben verbracht hat, immer weniger bewältigen konnte, sei hart gewesen, erzählt Rauch-Haltau. Er habe sie nicht in andere Hände geben wollen. Dass er dann zu Beginn voller Sorge jede zweite Nacht seine Tochter angerufen hat, sei "emotional heftig“ gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hat Rauch-Haltau nach Hilfe gesucht und ist auf das Café Zeitreise gestoßen.
Dort weiß man, dass es nicht nur um die Betreuung der Betroffenen geht, sondern auch die Angehörigen aufgefangen werden müssen. "Da geht es darum, wie gehe ich mit der Situation um“, erklärt Ute Ötsch, die das Café Zeitreise in Wiener Neustadt betreut und den Angehörigen mit Tipps zur Seite steht.
"Da kommen Dinge dazu, wie Inkontinenz. Oder dass die Person, mit der ich 40 Jahre verheiratet war, nicht mehr dieselbe ist und ich immer mehr alleine machen muss.“ Kommunikation sei hier der Schlüssel. Denn die Krankheit verändere den Menschen. Der Patient hat darauf keinen Einfluss. Stattdessen müssen sich die Angehörigen anpassen. Ganz wichtig sei, zu erkennen, dass die Erkrankten niemals etwas "zu Fleiß“ machen.
Vor wenigen Wochen dann ist Rauch-Haltaus Vater verstorben. Ihre Mutter sei ganz klar geworden und habe sich verabschieden können, erzählt sie. Für die Familie ein sehr emotionaler und berührender Moment.
Familie mit Pflege gefordert
Die Pflege der Mama fordert die Familie trotz 24-Stunden-Betreuung stark. "Wo beginnt man, wo hört man auf, wo nimmt man sich raus“, beschreibt es Rauch-Haltau. "Immer im Kopf zu haben, was braucht es, ist anstrengend.“
Bei der Adventjause lauschen die rund 12 Besucher indes gerade Gedichten, manche wischen sich verstohlen Tränen aus den Augen.
"Wie schmeckt der Punsch“, fragt Rauch-Haltau ihre Mama und streicht ihr über den Rücken. "Der Punsch schmeckt köstlich“, sagt die 77-Jährige und strahlt. Sie fühlt sich wohl, genießt die Gesellschaft, plaudert. Vor allem das Singen gefalle ihr, sagt die Tochter. Es sei schön, dass sie hier akzeptiert werde, wie sie ist.
Geschützter Raum
Das Café sei ein geschützter Raum, erklärt Koordinatorin Ötsch. „Demenzkranke essen zum Beispiel oft anders, das ist hier egal.“ Was sie meint: Manche Erkrankte vergessen, dass sie schon gegessen haben und essen permanent. Andere haben vergessen, wie man einen Löffel oder ein Häferl benutzt. Oft scheuen Betroffene und Angehörige daher Besuche in "normalen“ Lokalen.
Ohne Freiwillige, die mit anpacken, ist das Zeitreise-Treffen aber nicht machbar. Seit August ist in Wiener Neustadt etwa Cornelia Stöhr tätig. Sie hatte vor einigen Jahren selbst ihre demenzerkrankte Mama gepflegt, weiß um die Herausforderungen. "Das hat auch was mit Aufarbeitung zu tun“, sagt die 46-Jährige zu ihrem Engagement. Sie rät betroffenen Familien, sich sofort nach der Diagnose Unterstützung und Hilfe zu suchen.
Projektkoordinatorin Ute Ötsch
Immer mehr Betroffene
Angebote wie das Café Zeitreise werden an Bedeutung gewinnen. Laut Schätzungen sind in Österreich aktuell 170.000 Menschen an Demenz erkrankt, bis 2050 sollen es 290.000 werden. Alleine in NÖ geht man dann von 40.000 Betroffenen aus.
Dennoch wird das Projekt rein aus Spenden finanziert. Und: Speziell in ländlichen Gegenden würden notwendige Unterstützungsangebote fehlen, sagt Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien, Klaus Schwertner.
"Demenz ist eine Wir-Erkrankung. Es ist zuallererst eine große Herausforderung für die Betroffenen und ihre Familien. Die Herausforderungen und Verantwortung betreffen aber auch den Gesundheits- und Pflegebereich, sowie uns alle als Gesellschaft.“ Betroffene und ihre Familien würden hier von der Politik leider nach wie vor zu wenig unterstützt, betont Schwertner.
Es bleibt, oft den Ehrenamtlichen zu helfen. "Das war schön“, sagt Christine Haltau, als die letzte Note verklungen ist.
Kommentare