Bauernregeln: Landwirte haben gelernt, mit Wetterextremen zu leben

Marianne (li.) und Hilde Senk
Lostage halfen früher als Entscheidungshilfe in der Landwirtschaft: Hitze und Dürre nehmen spürbar zu.

5,5 Grad Celsius Außentemperatur zeigt das digitale Thermometer in der Bauernstube von Marianne Senk in Unterwindhag im niederösterreichischen Waldviertel an. Nichts Ungewöhnliches mitten im November. Ein Blick aus dem Fenster offenbart das, was im Spätherbst üblich ist: Zu sehen ist eine grautrübe Hügellandschaft mit einer dichten Wolkendecke und Regen. Seit Tagen erlebe sie das gleiche Szenario, sagt Marianne. Wäre da nicht der Stehkalender auf der hölzernen Rückenlehne ihrer Eckbank – man würde kaum glauben, dass eigentlich Mitte Mai ist.

Senior-Bäuerin Hilde Senk: "Es waren immer schöne und schlechte Zeiten dabei"

Kältewelle

Aber nicht das Datum, sondern das aktuelle Wetter spielt verrückt. Tatsächlich hatte der als Wonnemonat üblicherweise viel gelobte Mai – beliebt für ungetrübten Sonnenschein und frühlingshafte Temperaturen – bisher nicht viel mehr zu bieten als Kälte, Wind und Regen. Wenn er so weitermacht, gelingt ihm ein neuerlicher Eintrag in die heimischen Geschichtsbücher als „kältester Mai in den vergangenen 40 Jahren“. Das prophezeien ihm jedenfalls die Meteorologen.

Ist das Wetter wirklich nur mehr unberechenbar? Diejenigen, die aus Erfahrung darauf vielleicht eine Antwort kennen, sind die Landwirte. Bei Milchkaffee und Zwetschkenkuchen diskutieren Marianne Senk (51) und Schwiegermutter Hilde (79) gemeinsam mit dem KURIER über extreme Wetterphasen, meteorologische Veränderungen und sogenannte Lostage.

Bauernregeln: Landwirte haben gelernt, mit Wetterextremen zu leben

Marianne im Gespräch mit ihrer Schwiegermutter Hilde.

„Wer glaubt, dass heute alles schlimmer ist, der irrt sich. Wetterextreme gab es immer wieder. Mal war es zu heiß, mal zu kalt. Aber neue Phänomene sind deutlich bemerkbar“, sagt die Seniorin. Ungewöhnliche Jahre sind ihr noch gut in Erinnerung: „1950 – damals war ich zehn Jahre alt – hatten wir eine lange Dürreperiode. Rund um den 20. Juli mussten wir bereits mit der Getreideernte beginnen, weil das Korn schon reif war“, erinnert sich Hilde.

Auch der 1. April 1979 hat sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. „Ich kann mich deswegen noch gut an dieses Datum erinnern, weil an diesem Tag mein Vater gestorben ist. Über Nacht fiel fast ein halber Meter Schnee. Bei der Heimfahrt blieb das Auto mehrmals stecken. Zwei Tage später war der Großteil wieder weggeschmolzen“, erzählt sie.

Hilde stützt sich mit den Armen auf die Tischplatte, blickt ins Leere, vergleicht in Gedanken ihre Erfahrungen mit der aktuellen Entwicklung. Was ihr inzwischen immer wieder auffalle, seien die langen Trocken- und Regenphasen. „Wir waren früher viel gestresster, weil es häufiger Niederschläge gab und wir das gemähte Heu möglichst trocken nach Hause bringen mussten. Maschinen bekamen wir erst später“, sagt die 79-Jährige. Ihre Schwiegertochter stimmt ihr zu. „Wenn wir das Heu jetzt viel länger auf den Wiesen liegen lassen, ist das oft kein Problem. Hilfreich ist ein Blick auf die mobile Wetterprognose und schon wissen wir relativ genau, wie lange wir Zeit haben, um das Heu einzubringen“, sagt Marianne.

Bauernregeln: Landwirte haben gelernt, mit Wetterextremen zu leben

Eine der vieler Bauernregeln

Hagelgewitter

Ein Wetterphänomen, mit dem ältere Bauern so gut wie nie in Berührung kamen, beschäftigt seit ungefähr 25 Jahren über die Sommermonate immer öfter die Landwirtschaft: „Seit damals sind wir hagelversichert. Inzwischen kann sich ein Bauer gegen alle Ernteausfälle versichern lassen. Ich kann mich noch gut erinnern, als der Hagel 1995 gleich unsere neu eingebauten Holzfenster demolierte“, schildert Marianne. Ähnlich traurig sei der Anblick eines Kartoffelfeldes nach einem Hagelgewitter gewesen. „Vom ungefähr 50 Zentimeter hohen Kartoffelkraut blieb nur noch ein daumenhoher Rest übrig“, schildert die Junior-Bäuerin. „Hagel? Den kannten wir damals nicht oder er kam nur äußerst selten vor“, ergänzt die 79-Jährige.

Um auf einen nahenden Wetterumschwung reagieren zu können, mussten die Landwirte damals auf einfache Hilfsmittel oder Beobachtungen zurückgreifen. Eigene Wetterstationen oder moderne Prognoseprogramme waren noch reine Fiktion. „Einen Barometer hatten wir damals aber schon. Der angezeigte Luftdruck gab darüber Auskunft, ob sich das Wetter bald ändert“, sagt Hilde. Ansonsten habe man sich an Lostagen orientiert. Das sind entscheidende Tage im Bauernkalender, die dank überlieferter Reime weit verbreitet und in der Landwirtschaft als Entscheidungshilfe gelten. Ein Beispiel: „Wenn Märzennebel hundert Tage vorüber sind, kommt Regen und Gewitterwind.“ „Dass dieser Spruch stimmt, haben mir schon etliche ältere Landwirte bestätigt“, sagt Marianne.

Weil damals viele Bauern noch keinen Fernsehapparat und nur wenige ein Radiogerät besaßen, waren auch Tiere oft wichtige Hinweisgeber. „Wenn die Kühe im Stall unruhig sind, ist das ein Zeichen dafür, dass die Insekten für sie lästig werden und eine Wetteränderung bevorsteht“, weiß Hilde. Ähnlich aufgekratzt verhalten sich Schwalben, wenn Gewitterwolken aufziehen. „Sie segeln oft knapp über den Boden, um die tieffliegenden Insekten zu erwischen“, sagt die 79-Jährige.

Auch wenn sie immer wieder extreme Wetterphasen erlebt hat, ist für sie eines neu. „Man spürt schon sehr deutlich, dass es wärmer und der Niederschlag weniger wird. Wenn wir früher Schnee von Oktober bis März hatten, war das normal“, sagt Hilde. Lagen die Temperaturen im Juli oder August bei 27 bis 28 Grad Celsius, habe man von einem heißen Sommer gesprochen.

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