Gewalt in SOS-Kinderdörfern: Weiterer Fall in Tirol

Die Vorfälle sollen sich am Standort Moosburg ereignet haben.
Ein Bericht in der aktuellen Ausgabe der Wiener Wochenzeitung Falter schlägt Wellen. Darin wird von Gewalt - physischer, psychischer, sexueller und institutioneller - im SOS Kinderdorf in Moosburg in Kärnten berichtet.
Am Mittwoch hieß es auf KURIER-Anfrage, dass es in Tirol einen weiteren, ähnlich gelagerten, Fall gibt. Die Übergriffe in Kärnten sollen sich über Jahre hinweg gezogen haben und bis in die jüngere Verangenheit angedauert haben.
Nacktfotos von Kleinkindern
- Zwischen 2008 und 2020 sollen Pädagoginnen und Pädagogen Kindern, die in ihrer Obhut waren, Unerträgliches angetan haben: Ein Mann fotografierte Kleinkinder nackt beim Baden, einen Buben auf einem Spielplatz. Am Abend nahm er die Kinder mit in seine Dienstwohnung, berichtet der Falter.
- Eine Frau soll Essen reglementiert und den Wasserhahn abmontiert haben. Beim Duschen beobachtete sie die Kinder, „um heimliches Saufen zu verhindern“, so hielt sie es selbst im Tagesablauf-Protokoll fest.
- Ein Mädchen wurde drei Jahre lang jede Nacht in ihrem Zimmer eingesperrt.
Über Jahre hinweg sollen Kinder in einem SOS-Kinderdorf in Kärnten misshandelt, eingesperrt und gequält worden sein. Die Organisation hat 2020 zwar eine externe Studie zu den Missständen in Moosburg beauftragt.
Die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit aber vorenthalten, wie die Wochenzeitung Falter nun publik gemacht hat. Sie wirft SOS-Kinderdorf vor, die Dinge unter Verschluss gehalten zu haben. Das weisen die Verantwortlichen zurück.
„Diese Studie war eine der Maßnahmen, die wir ergriffen haben, als diese Fälle von Gewalt damals gemeldet wurden“, sagt Geschäftsführerin Annemarie Schlack. Auf KURIER-Anfrage, ob es noch weitere Fälle dieser Art gebe, wird eingestanden, dass im Sommer 2021 Misshandlungen am SOS-Kinderdorf-Standort Imst bekannt wurden.
Gewalt am Gründungsstandort
Auch hier sei eine umfassende Aufarbeitung mit externer Begleitung erfolgt. Ausgerechnet in dieser Tiroler Gemeinde Hermann Gmeiner SOS-Kinderdorf 1949 gegründet. Ziel war es, sozial benachteiligten und verwaisten Kindern eine Chance für ein Leben in familiärer Umgebung zu ermöglichen.
Vor vier Jahren wurden am Gründungsstandort nicht nur „Fehlverhalten von Führungskräften sichtbar, sondern auch Fälle physischer und psychischer Gewalt gegen Kinder“, heißt es in einer Stellungnahme. Zudem seien Kindeswohlverletzungen nicht immer den Richtlinien entsprechend bearbeitet worden.
„Es kam zu einer Trennung von Führungskräften, die Vorwürfe wurden aufgearbeitet und personelle sowie umfassende strukturelle Änderungen vorgenommen“, wird erklärt. Teil der Aufarbeitung sei, wie in Moosburg, die Beauftragung einer externen Studie durch das Institut für Männer- und Geschlechterforschung in Graz gewesen.
Führungsstil kritisiert
Tatsächlich machte der Standort Imst bereits 2021 Schlagzeilen. Aber da ging es in erster Linie um den von Mitarbeitern beklagten Führungsstil des damaligen Leiters. Keine Rede war von Gewalt gegen Kinder. „Unter neuer Führung hat sich der Standort grundlegend neu aufgestellt und arbeitet heute in einer modernisierten Struktur“, versichert SOS-Kinderdorf heute.

In Moosburg wurde erst 2020 gehandelt.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Verein mit der Frage beschäftigen muss, wie gut das Kindeswohl in seinen Standorten gewährleistet ist. „Wir können nicht immer verhindern, dass etwas passiert“, hat 2014 die damalige pädagogische Leiterin der Organisation erklärt.
„Aber wir dürfen nichts vertuschen. Es ist schlimm, wenn ein Kind Gewalt erfahren hat und sich an niemanden wenden kann“, so die Frau, die später der Geschäftsführung angehörte, welcher der Falter nun Vertuschung vorwirft.
Anlass für ihre Aussagen vor mehr als zehn Jahren war die von SOS-Kinderdorf selbst beauftragte Aufarbeitung der ersten 50 Jahre seiner Geschichte durch den Tiroler Historiker Horst Schreiber. Er kam in einem Buch zu einem wenig schmeichelhaften Befund. Der Titel spricht Bände: „Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf“.
Nacktbilder, Essensentzug
Der Ansatz des familienähnlichen Modells in den Kinderdörfern „war patriarchal-autoritär“, schilderte Schreiber damals. Die „männerbündlerische Führungsstruktur“ mit den Dorfleitern sei eng mit Gewalt verbunden gewesen. In Kärnten scheint dieser alte Geist – zum Leidwesen der Kinder – bis vor wenigen Jahren durch das Kinderdorf geweht zu haben.
Der einstige Leiter der Einrichtung soll laut Falter die Zustände nicht nur toleriert haben, sondern auch selbst gewalttätig gewesen sein. Ein Pädagoge fertigte Nacktbilder von Kleinkindern an und nahm die Kinder abends mit in seine Dienstwohnung. Eine andere Mitarbeiterin habe Essen und Wasser reglementiert.
„Im SOS-Kinderdorf Moosburg herrschte eine Kultur, die Gewalt und Grenzüberschreitungen auf mehreren Ebenen begünstigte, hervorbrachte, deckte und so kontinuierlich reproduzierte“, heißt es in besagter Studie.
Für SOS-Kinderdorf steht außer Frage, „dass am Standort Moosburg in der Vergangenheit Fehler passiert sind und der Schutz der Kinder nicht immer lückenlos gewährleistet werden konnte.“ Für das Leid, das die jungen Menschen in der Betreuung von SOS-Kinderdorf erfahren haben, entschuldige man sich aufrichtig.
Unbhängige Ombudsstellen
Alle Betroffenen, denen durch SOS-Kinderdorf Unrecht widerfahren ist, können sich bei den externen unabhängigen Ombudsstellen melden: https://www.sos-kinderdorf.at/so-hilft-sos/kinderschutz/ombudsstelle
Eigene Plattform
Über die Whistleblowing-Plattform von SOS-Kinderdorf können ebenfalls Fehlverhalten oder Missstände gemeldet werden.
Es habe aber eine Aufarbeitung „in enger Zusammenarbeit mit unserem Auftraggeber, der Kinder- und Jugendhilfe des Landes Kärntens, stattgefunden“, wird betont. Am Mittwoch wurde aber jedenfalls „eine externe Evaluierung der Aufarbeitungsprozesse“ angekündigt. Und zwar zu sowohl zu dem Fall in Moosburg wie auch jenem in Imst.
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