"Vater der Unfallchirurgie": Wer war Lorenz Böhler?
Wäre der Begriff nicht so abgedroschen, würde ich diesen Artikel mit dem Satz „Lorenz Böhler dreht sich im Grabe um“ beginnen. Denn der Arzt, der als „Vater der Unfallchirurgie“ Geschichte schrieb, würde nicht fassen, dass man das nach ihm benannte Unfallkrankenhaus in Wien-Brigittenau von einem Tag auf den anderen schließen und durch diverse Notmaßnahmen ersetzen muss.
Lorenz Böhler hat Wiens erstes Unfallkrankenhaus vor fast 100 Jahren gegründet und damit die Unfallchirurgie revolutioniert. Seine Heilerfolge waren so groß, dass Unfallmediziner aus aller Welt nach Wien kamen, um dann in ihren Heimatländern Krankenhäuser nach Böhlers Vorbild zu errichten.
Mit fünf Jahren Chirurg
Geboren wurde Lorenz Böhler am 15. Jänner 1885 in Wolfurt bei Bregenz, wo er als Sohn eines Tischlers in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Er besuchte das Gymnasium in Brixen und Bregenz und konnte mithilfe eines Stipendiums in Wien Medizin studieren. Als junger Arzt führte er ein abenteuerliches Leben, verdingte sich als Schiffs- und als Schularzt, um dann doch Chirurg zu werden – und sich damit den Traum zu erfüllen, den er angeblich schon als Fünfjähriger gehabt hatte.
Die Art und Weise, wie Lorenz Böhler zum Wegbereiter der modernen Unfallchirurgie wurde, hätte ihn beinahe ins Gefängnis gebracht: Im Ersten Weltkrieg Leiter eines Lazaretts in Bozen, zeigte der engagierte Mediziner großes Interesse an den Schwerstverwundeten. Ihm aber wurde, wohl infolge seiner Jugend, nur die Behandlung von Leichtverwundeten anvertraut, wobei der Durchschuss einer Großzehe sein schwerster „Fall“ war.
Geraubte Patienten
Lorenz Böhler schlich daher bei Nacht und Nebel wie ein Dieb zu einem nahen Bahnhof, an dem die Verwundetentransporte mit schweren Knochenschussbrüchen und Gelenkschüssen einlangten. Der 30-jährige Regimentsarzt bestieg mit ein paar Assistenten die Waggons und „raubte“ – gegen alle Vorschriften – die Schwerverletzten, um sie dann in seinem Spital medizinisch zu versorgen.
Trotz der zweifelhaften „Patientenbeschaffung“ galt Böhlers Klinik bald als bahnbrechend, da er mit den von ihm entwickelten Operationsmethoden und der anschließenden Ruhigstellung unzähligen Soldaten der k. u. k. Armee das Leben retten oder sie vor Amputationen bewahren konnte.
Lorenz Böhler hatte erkannt, dass Unfallopfer in den Spitälern von nicht ausreichend geschulten Medizinern in „normalen“ chirurgischen Stationen neben Magen- und Nierenkranken betreut wurden. Eigene Unfallspitäler mit speziell ausgebildeten Ärzten gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und so waren damals nur neun Prozent (!) der Patienten mit Oberschenkelhalsbrüchen nach der Spitalsbehandlung wieder voll arbeitsfähig; heute sind es praktisch 100 Prozent.
Das erste Unfallspital
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie ließ sich der gebürtige Vorarlberger mit Frau und sechs Kindern in Wien nieder, um der Arbeiterunfallversicherungsanstalt die Gründung eines Unfallkrankenhauses vorzuschlagen, in dem durch die fachgerechte Behandlung frischverletzter Patienten die Zahlungen für Unfallrenten um 50 bis 70 Prozent gesenkt werden könnten. So wurde im Jahr 1925 in der Webergasse im 20. Bezirk Wiens erstes Arbeitsunfallkrankenhaus eröffnet.
Der mittlerweile berühmte „Knochenpapst“ hatte bei der Planung des Krankenhauses, das er dann fast 40 Jahre lang leiten sollte, die Bedingung gestellt, dass er in dem Gebäude bei Tag und Nacht erreichbar sein müsste, weshalb in dem Spital sowohl seine Privatordination (im zweiten Stock) als auch seine Wohnung (im vierten Stock) untergebracht wurden.
Es gibt aber auch Schattenseiten im Leben des Lorenz Böhler. Seit 1934 Mitglied der austrofaschistischen Vaterländischen Front, trat er nach Österreichs „Anschluss“ an Hitler-Deutschland sowohl der NSDAP als auch der SS bei. Weiters unterzeichnete er einen Brief, in dem die Entlassung eines jüdischen Arztes damit begründet wurde, dass dieser „den Ruf der Wiener Kliniken in den Augen seriöser Mediziner zu schädigen begann“.
Politischer Opportunist
Auch wenn nachträglich erklärt wurde, Böhler hätte das alles nur seiner Karriere und damit seinen Patienten zuliebe getan, ist sein politischer Weg bestenfalls als der eines Opportunisten einzuordnen.
1945 verlor Lorenz Böhler daher seine Lehrbefugnis an der Universität Wien, wurde aber nach zwei Jahren rehabilitiert. Er leitete auch weiterhin das Unfallkrankenhaus in der Webergasse, verfasste wissenschaftliche Arbeiten und hielt in aller Welt Vorlesungen, insbesondere in den USA.
1972 eröffnete die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) in der Donaueschingerstraße den Neubau des Spitals als Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus, das heute den Namen „AUVA-Traumazentrum Wien Standort Brigittenau Lorenz Böhler“ trägt, seit einer Woche wegen gravierender Brandschutzmängel in den Schlagzeilen ist und vor der Schließung steht.
Lorenz Böhler war bis in sein 88. Lebensjahr in seiner Ordination tätig. Er starb am 20. Jänner 1973 im damals neuen Lorenz-Böhler-Krankenhaus und wurde am Döblinger Friedhof beigesetzt.
Wo er sich jetzt, ein halbes Jahrhundert später – auch wenn der Begriff abgedroschen klingen mag – im Grabe umdreht.
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