"Wegweisung auch ohne Übergriffe"

Reiss (r.) übergab die Leitung des Gewaltschutzzentrums an Gölly (l.)
Die neue und die scheidende Leiterin der Einrichtung sprechen über ihre Erfahrungen.

Vor 16 Jahren wurde das Gewaltschutzzentrum in Oberwart eröffnet (siehe Zusatzbericht). Annemarie Reiss ist die Frau der ersten Stunde. Über 7000 Klientinnen und Klienten haben sie und ihr Team seither betreut. Jetzt geht Reiss als Geschäftsführerin in Pension. Gemeinsam mit ihrer Nachfolgerin, der Juristin Karin Gölly, spricht Reiss über ihre Arbeit, künftige Herausforderungen und Fälle, die ihr besonders zu Herzen gegangen sind.

KURIER:Frau Reiss, was hat sich in den vergangenen 16 Jahren in Ihrer Arbeit im Gewaltschutzzentrum verändert?

Annemarie Reiss:Am Anfang hatten wir es vorwiegend mit Leuten zu tun, die schon jahrelang Gewalt erlebt haben. Jetzt erleben wir immer öfter, dass sich die Opfer schon nach den ersten körperlichen Übergriffen oder Drohungen an uns wenden. Das ist ein Fortschritt.

Warum nehmen die Opfer heute früher Hilfe in Anspruch?

Reiss: Es ist gesellschaftlich nicht mehr tabu, dass man sich beraten lässt. Man redet über das Thema Gewalt. Heute muss es keine körperlichen Übergriffe geben, damit ein Betretungsverbot ausgesprochen wird. Früher wäre eine Wegweisung ohne eine zumindest leichte Körperverletzung undenkbar gewesen. Die Polizei ist unser größter Kooperationspartner.

Wie oft kommt es vor, dass die Polizei ein Betretungsverbot verhängt?

Reiss: Die Zahl der Wegweisungen hat sich kontinuierlich gesteigert. 1999 hatten wir 54 Fälle, im Vorjahr waren es bereits 170. Die Mordrate im häuslichen Bereich ist in Österreich ja auch zurückgegangen, seit es die Betretungsverbote gibt.

Welche Schritte setzen Sie, wenn eine Klientin bzw. ein Klient Opfer von Gewalt wurde?

Karin Gölly: Zuerst erfolgt eine Abschätzung der Gefährdungssituation. Dann wird mit der Klientin ein Sicherheitsplan besprochen. Und daraus ergeben sich natürlich viele andere Bereiche, die abgeklärt werden müssen. Vor allem, wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben. Auch die finanzielle Situation ist ein Thema. Neben juristischen Fragen geht es auch um psychosoziale Beratung.

Wie hoch ist der Prozentsatz an männlichen Gewaltopfern, die Sie betreuen?

Reiss: Bei den Erwachsenen sind etwa zehn Prozent der Klienten männlich. Meist wird ihnen vom Vater oder Bruder Gewalt angetan.

Welche Altersgruppe zählt zu Ihrer Klientel?Reiss: Wir sind, angefangen vom Baby bis zur 91-jährigen Frau, die wir auch schon beraten haben, für alle da. Wir vertreten auch die Rechte der Kinder, etwa bei Missbrauchsfällen. Wir bieten in Absprache mit der Jugendwohlfahrt juristische Prozessbegleitung an und wir können Schadenersatzansprüche geltend machen.

Gölly: Die Hauptgruppe unserer Klienten sind aber die 35 bis 60-Jährigen.

Welcher Fall ist Ihnen während Ihrer Tätigkeit besonders in Erinnerung geblieben?

Reiss: Wenn früher eine Frau über 60 Jahre zu uns gekommen ist, war das – anders als heute – eine Sensation. Ich erinnere mich an eine Frau, sie war 30 Jahre verheiratet. Sie litt unter der Gewalt ihres Mannes, hat kaputt ausgeschaut, als sie zu uns kam. Sie war überzeugt, dass sich eine Trennung nicht mehr auszahlen würde. Doch sie hat es geschafft sich von ihrem Mann zu trennen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Als ich sie ein paar Jahre später wieder getroffen habe, hat sie um 20 Jahre jünger gewirkt. Das hätte keine Schönheitsfarm bewirken können. Es ist also nie zu spät, etwas zu ändern.

Frau Gölly, was sind Ihre Ziele in Ihrer neuen Funktion?

Gölly: Wir bieten jetzt gemeinsam mit "Neustart" Anti-Gewalttraining für Männer an, für die es gerichtliche Auflagen oder Bewährungshilfe gibt. Auch die Zusammenarbeit mit den Männerberatungsstellen wollen wir ausbauen. Ein wichtiger Schritt wird die Kooperation mit der Krages sein. Krankenhauspersonal soll sensibilisiert und geschult werden, um Opfer von Gewalt zu erkennen.

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