"Mit Tränen nach Hause gefahren"
Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, als Nickelsdorf zum Hotspot der Flüchtlingsbewegung in Europa wurde. Am 5. September 2015 kamen die ersten 12.000 Flüchtlinge über die Grenze im Nordburgenland. Insgesamt kamen fast 300.000 Menschen. Alexander Heller, Einsatzleiter des Roten Kreuzes im Bezirk Neusiedl am See, und Tobias Mindler, Sprecher und Koordinator des Roten Kreuzes, waren von Beginn an dabei.
KURIER: War Ihnen bewusst, was da auf Sie zukommt?
Tobias Mindler:Im Einsatz funktionierst du einfach. Die Dimension des Ganzen wird einem dann erst später bewusst. Wenn uns jemand gesagt hätte, das Ganze dauert jetzt zwei Monate, dann hätten wir uns leichter getan.
Alexander Heller: Am Anfang hat den ganzen Tag über das Telefon geläutet. Der Einsatz hat sehr viel Organisation erfordert, auch intern.
Wie ist es gelungen, alle Helfer zu koordinieren?
Mindler: Am stärksten Tag sind binnen 24 Stunden 19.400 Leute über die Grenze gekommen. Da mussten wir die Regeln klar definieren. Uns haben selbst ernannte Flüchtlingshelfer manchmal das Leben schwer gemacht. Wenn sich einer an der Grenze einfach hinstellt und für ein paar Hundert Leute zu kochen beginnt und 12.000 Personen stellen sich dort an, bringt das das ganze Crowd-Management zum Erliegen. Das ist kontraproduktiv.
Heller: Der Wille zum Helfen geht bei manchem bis zur Selbstvernichtung. Es gibt Leute, die sich Kredite aufnehmen, um zu helfen. Andere brechen emotional unter der Last zusammen. Wichtig ist, dass sich alle Helfer an Regeln halten.
Was waren die Herausforderungen?
Mindler: Die Bereitstellung von Essen. Nach drei Wochen haben wir in der ganzen Umgebung keinen Schwarztee mehr bekommen. Zum Glück war die Wirtschaft kooperativ: Die Großfirmen ließen uns aus den Lagern Vorräte holen.
Heller: Es war eine Erfahrung, die man sonst nirgends bekommt. Wir haben organisatorisch einiges dazugelernt. Dinge, die man zwar in der Theorie lernt, aber praktisch nicht anwenden muss. Man darf nicht vergessen, dass das Rote Kreuz nicht gewohnt ist, über lange Zeit hinweg Hilfe zu leisten. Unsere Einsätze dauern ein paar Stunden oder maximal ein paar Tage, wie bei Hochwassereinsätzen.
Wie hat die Zusammenarbeit mit den anderen Organisationen funktioniert?
Mindler: Es war ein Polizeieinsatz, dem wir uns untergeordnet haben. Hans Peter Doskozil (ehem. Landespolizeidirektor, Anm.) hat alle an einen Tisch geholt und Vereinbarungen getroffen, die für alle gepasst haben.
Heller: Auch mit dem Bundesheer haben wir gut kooperiert. Einmal hat ein Bundesheer-Angehöriger Tausende Zuckerl geordert. Ich hab ihn gefragt, wozu das nötig sei. Die Soldaten haben die Zuckerl an die ankommenden Frauen und Kinder verteilt. Das hat die Massen beruhigt. Ein einfaches Mittel mit großer Wirkung.
Was waren ihre beeindruckendsten Erlebnisse?
Mindler: Wir sind öfters mit Tränen in den Augen von Nickelsdorf nach Hause gefahren. Sehr emotional war es jedes Mal, wenn Menschen, die nach zwei Monaten wieder WLAN-Zugriff hatten, mit ihren Eltern und Kindern Kontakt aufnehmen konnten, um zu sagen: ,Hallo, ich lebe‘."
Heller: Der Einsatz war emotional sehr belastend für die Mitarbeiter. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, bin ich gegangen und habe Zuckerl an die Kinder verteilt. Wenn ich das Lächeln in ihren Gesichtern gesehen habe, war alles wieder vergessen.
Mindler: Belastend war auch, dass wir Flüchtlinge, die aus Ungarn kamen, nach Gewaltverletzungen wie Kieferbrüchen und Hämatomen versorgen mussten. Da sind kleine Kinder angekommen, denen wurden Zigarettenstummel am Unterarm ausgedämpft. Es haben Menschenrechtsverletzungen stattgefunden. Da hatten wir ein Gefühl der Hilflosigkeit.
Wie haben die Mitarbeiter den Einsatz verkraftet?
Mindler: Manche mussten eine Zwangspause nehmen, um das Erlebte zu verkraften. Im Oktober habe ich zu meinem Chef gesagt: Jetzt brauch ich eine Woche, um abzuschalten."
Haben Sie auch von der Zivilbevölkerung Hilfe erfahren?
Mindler: Es sind sogar Touristen aus der Schweiz und Deutschland angereist, um zu helfen. Es waren auch viele Prominente da, um anonym zu helfen, auch Politiker.
Heller:Es gab auch viele Spender. Einer hat 50.000 Euro für den Ankauf von Schuhen gegeben. Es hat auch viele gegeben, die selbst etwas brauchen könnten und die haben Lebensmittel gebracht.
Würde es Ihrer Meinung nach heuer auch wieder so eine Welle der Hilfsbereitschaft geben?
Mindler: Im Vorjahr war klar, dass 90 Prozent jener, die nach Österreich kommen, weiter wollen. Wenn die Leute da bleiben, ist es eine andere Situation. Ich weiß aber, dass heuer bei Bedarf wieder sehr viele helfen würden.
Glauben Sie, dass auch heuer wieder so viele Flüchtlinge über die Grenze ins Burgenland kommen werden?
Mindler: Dass plötzlich 10.000 Menschen vor der Grenze stehen, das glaube ich nicht. Wir nehmen nicht an, dass es wieder so wird wie im Vorjahr. Aber wir können nicht prognostizieren, sondern nur reagieren. Wir stehen jedenfalls auf Stand by. Für einen großen Einsatz sind wir gerüstet.
Von 5. September bis zum 5. November 2015 wurden 282.749 Personen durch Rotkreuz-Mitarbeiter sowie Team Österreich-Helfer betreut. Im September und Oktober wurden 54.142 Stunden an ehrenamtlicher Tätigkeit geleistet. Am 17. Oktober kam der letzte Flüchtling in Nickelsdorf an. Das Rote Kreuz war auch in Heiligenkreuz, Moschendorf und Oberwart im Einsatz. (Quelle: "Grenzerfahrungen", ein Buch von Tobias Mindler, Sandra Nestlinger)
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