Die Reizüberflutung steuern
Von Ingrid Teufl
Wenn es um das eigene Kind geht, ist jede Berühmtheit nebensächlich. Wie berichtet, sprach Opernsängerin Anna Netrebko im russischen Fernsehen erstmals offiziell über die Autismus-Diagnose ihres fünfjährigen Sohnes Tiago. Damals war der Bub drei Jahre alt. Heute geht er in eine spezielle Integrationsschule in New York und seine Mutter ist zuversichtlich, dass er sich bestmöglich entwickelt.
Mit ihrem Outing will Anna Netrebko vor allem anderen Betroffenen Mut machen: „Ich will Müttern mit autistischen Kindern sagen, dass man nichts fürchten muss. Alles kann bis zu einem normalen Niveau entwickelt werden.“ Autismus-Expertin Carolin Steidl von der Autistenhilfe Österreich rechnet der bekannten Opern-Diva ihren Schritt in die Öffentlichkeit hoch an. „In den USA redet man schon viel offener darüber, in Europa ist das noch nicht üblich.“
Wenig Reaktion
Anfangs gab die Diva dem Sprachen-Wirrwarr zu Hause die Schuld daran, dass Tiago nicht sprach und sich zurückzog. Er wächst mit Netrebkos Muttersprache Russisch, dem Spanisch seines Vaters Erwin Schrott und der gemeinsamen Familien-Sprache Englisch auf. Doch dann stellte sie fest, dass der Bub gar nicht reagierte, wenn man ihn ansprach.
„Sich einigeln in eine eigene Welt“ ist für Psychologin Carolin Steidl aber nur ein Teil eines großen Symptomspektrums. „Es gibt nicht den Menschen mit Autismus.“ Gewisse Schwierigkeiten, etwa mit sozialen Kontakten zu Eltern und Gleichaltrigen, treten bei allen Formen der sehr vielfältigen Entwicklungsstörung auf. „Viele Kinder wollen sogar Kontakt. Sie wissen aber nicht, wie sie ihn herstellen sollen.“ Wie bei Anna Netrebko werden die Eltern meist selbst aufmerksam, „dass sich ihr Kind anders entwickelt“.
Für Therapeutin Steidl ist eine frühe und genaue Diagnose wichtig. Die läuft sehr ausführlich ab. „Wir beobachten das Kind, beziehen seine Entwicklungsgeschichte mit ein und wie es Reize verarbeitet oder mit anderen Kindern agiert.“ Erst dann wird aus verschiedenen Therapie- und Förderungsmöglichkeiten ausgewählt. „Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, zu erlernen, überflüssige Reize auszuschalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren“, betont die Expertin.
Integration
Die beste Therapie sei aber Integration. „Kinder wie Tiago brauchen vor allem soziale Kontakte“, erklärt Steidl. Es gehe darum, nicht das Sich-Absondern zu fördern, sondern „in kleinen Schritten größtmögliche Selbstbestimmung zu lernen“.
Dazu braucht es häufig spezielle Begleitung im Alltag. „Bei autistischen Kindern sollte man darauf achten, was sie überfordert. Sie müssen sich dann auch zurückziehen können.“ In der Therapie gehe es deshalb auch darum, „die Umwelt besser zu strukturieren und die Motivation zu erhöhen“. Denn bei Autisten sind Interesse und Neugierde für neue Dinge häufig nicht so ausgeprägt wie bei Gleichaltrigen.
Vieles in der Begleitung autistischer Kinder ist also auf behutsame Verhaltensänderung ausgelegt. Medikamente, die bei psychischen Problemen auch Kindern immer häufiger verschrieben werden (siehe unten), sind übrigens für die Basis-Therapien autistischer Kinder nicht vorgesehen. Carolin Steidl betont, dass sie ausschließlich gegen „Begleiterscheinungen wie Aggression oder Depression“ eingesetzt werden.