Denkt sie anders als er?
Von Nicole Thurn
Frauen können besser: Kinder erziehen, Alte pflegen, Sprachen erlernen und die Wohnung dekorieren. Männer können besser: einparken, rechnen, logisch denken und den Weg finden. Erstens: Ist das wirklich so? Und zweitens: Ist es angeboren oder anerzogen?
Darüber herrscht Uneinigkeit – in der Gesellschaft, den politischen Ideologien ebenso wie unter Wissenschaftlern.
Eine neue europaweite Studie des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien hat Geschlechterunterschiede im großen Stil analysiert – mit Daten von 31.000 Frauen und Männern in 13 europäischen Ländern. Das Ergebnis: Ja, Frauen und Männer haben unterschiedliche kognitive Fähigkeiten. Und nein, haben sie nicht. Denn es kommt darauf an – auf das Alter, die Entwicklung der Gesellschaft, in der sie leben und auf die Art der kognitiven Fähigkeit.
Die 31.000 Teilnehmer der Studie waren im Jahr 2006/’07 im Rahmen der Erhebung "Share" auf ihren Wortschatz, ihr Kurzzeitgedächtnis und ihre Rechenfähigkeiten getestet worden. Sie waren zwischen 50 und 85 Jahre alt – denn ursprünglich wollte man mit der Erhebung die Alterung der Bevölkerung widerspiegeln.
Studienautorin Daniela Weber verglich mit ihren Kollegen die Testergebnisse nach Regionen, Alter und Geschlecht und bezog auch die gesellschaftliche Entwicklung des jeweiligen Landes ein – wie Wirtschaftsleistung und Bildungsniveau der Bevölkerung.
Norden anders als Süden
Für den Kurzzeitgedächtnis-Test mussten Frauen und Männer zehn Begriffe auswendig lernen und nach kurzer Zeit memorieren. Das Ergebnis: In Südeuropa lagen die Männer mit ihrer Gedächtnisleistung vorn, in Mitteleuropa die Frauen. In Nordeuropa hängten die Frauen die Männer sogar bei Weitem ab.
Beim Wortschatz-Test mussten möglichst viele Tiernamen in einer Minute genannt werden. Mit steigendem Lebensstandard glichen sich die Geschlechter an. Im gleichstellungsorientierten Skandinavien gebe es praktisch keine Unterschiede mehr zwischen Mann und Frau, erklärt Weber. Ein Zeichen dafür, dass der Wortschatz erlernt wird und es keine biologischen Unterschiede gibt? "Alles deutet darauf hin", bejaht die Forscherin.
Anders bei den Rechenaufgaben: Hier schnitten die Männer in allen Regionen besser ab als die Frauen – aber die Unterschiede verringerten sich mit steigendem Lebensstandard deutlich.
Das Fazit der Studie: Die kognitiven Unterschiede zwischen Mann und Frau sind teils biologisch, teils gesellschaftlich bedingt. "Von höherem Lebensstandard, mehr Geschlechtergerechtigkeit und besseren Lebensbedingungen profitieren beide Geschlechter, aber die Frauen noch deutlich mehr", so Weber.
Ein Verhaltensexperiment an der Universität Wien unter der Leitung des Psychologen Claus Lamm hat zu einem überraschenden Ergebnis geführt: Je 40 Frauen und Männer mussten eine öffentliche Präsentation halten und komplexe Rechenaufgaben lösen, bis sie gestresst waren. Gemessen wurden Pulsfrequenz und das Stresshormon Cortisol.
Danach mussten sie verschiedene Aufgaben zu Einfühlungsvermögen und Perspektivenübernahme lösen. Das Ergebnis: Frauen konnten besser zwischen fremd- und selbstgesteuerten Emotionen unterscheiden, reagierten empathischer. Männer dagegen reagierten mit einer Art Fluchtreflex – mit verminderter Empathie und höherer Egozentrizität. Die Forscher erklären sich die entgegengesetzten Reaktionen nicht nur mit erziehungsbedingten und kulturellen Einflüssen, sondern auch mit biologischen: Frauen schütten unter Stress mehr Mengen des Bindungshormons Oxytocin aus.