Taliban stehen vor Kabul, Präsident bricht sein Schweigen
Die militant-islamistischen Taliban setzen ihren Vormarsch in Afghanistan fort und rücken dabei immer näher an Kabul heran.
Am Samstag haben Taliban-Kämpfer mit der Großstadt Mazar-i-Sharif die letzte Hochburg der afghanischen Regierung im Norden des Landes eingenommen. Sicherheitskräfte flohen zur usbekischen Grenze, wie ein Provinzbeamter am Samstag laut Reuters mitteilte.
"Die Taliban haben die Kontrolle über Mazar-i-Sharif übernommen", sagte Afzal Hadid, Leiter des Provinzrats von Balkh. Die viertgrößte Stadt von Afghanistan fiel offenbar kampflos an die Taliban. Die Soldaten hätten ihre Ausrüstung zurückgelassen und sich auf den Weg zum Grenzübergang gemacht. "Alle Sicherheitskräfte haben die Stadt verlassen", sagte Hadid, auch wenn es in einer Gegend außerhalb des Stadtzentrums noch zu sporadischen Zusammenstößen gekommen sei.
Am Samstag habe es auch Gefechte um Maidan Shar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer von der afghanischen Hauptstadt gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presseagentur (DPA). Die Taliban beherrschten bereits einen Großteil der Provinz.
Erste US-Soldaten trafen ein
In Kabul trafen unterdessen erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen. Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagt ein US-Vertreter. Allerdings versuchten die Islamisten, die Hauptstadt mit ihren vier Millionen Einwohnern zu isolieren, sagte Ministeriumssprecher John Kirby. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Taliban innerhalb weniger Tage auf Kabul vorrücken könnten.
"Afghanistan gerät außer Kontrolle", warnte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Er forderte die Taliban auf, ihre Offensive sofort zu stoppen.
Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen haben die Taliban große Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Die Aufständischen wollen ein "Islamisches Emirat Afghanistan" errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001.
Katar forderte Waffenstillstand
Die Regierung von Katar forderte die Taliban am Samstag zur Deeskalation auf. Die Taliban müssten einen Waffenstillstand annehmen und damit zu einer "umfassenden politischen Lösung" für Afghanistan beitragen, erklärte das katarische Außenministerium am Samstag.
Zuvor hatte sich der katarische Außenminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani mit dem Chef des politischen Büros der Taliban in Doha, Mullah Abdul Ghani Baradar, getroffen. Es war die bisher deutlichste Aufforderung Katars an die Taliban, ihre gewaltsame Offensive in Afghanistan zu drosseln. Katar richtet die innerafghanischen Friedensgespräche aus, die seit Monaten nicht vorankommen.
Präsident will "bald" Ergebnisse präsentieren
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani äußerte sich nach langem Schweigen in einer TV-Ansprache zur dramatischen militärischen Lage und sagte, er wolle nicht, dass weiter das Blut unschuldiger Menschen in Afghanistan vergossen werde.
Dabei ging er aber nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine Einigung mit den Islamisten frei machen. Er spreche mit politischen Führern und internationalen Partnern und wolle "bald" Ergebnisse vorstellen, sagte er lediglich.
Leute außer Land bringen
Da der Widerstand der afghanischen Regierungstruppen bröckelt, bemühen sich westliche Staaten fieberhaft, Landsleute und Botschaftspersonal in Sicherheit zu bringen. Die US-Regierung hatte angekündigt, dafür vorübergehend rund 3.000 Soldaten zu entsenden. Großbritannien will rund 600 Soldaten nach Kabul entsenden, um Botschaftspersonal und einheimische Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen.
Auch die deutsche Bundeswehr plant einen großen Evakuierungseinsatz und weitere Länder organisieren die Ausreise ihrer Botschaftsangehörigen, u.a. die Niederlande und Spanien. Österreich unterhält in Kabul keine Botschaft, der Amtsbereich Afghanistan wird von Islamabad aus betreut.
Paris will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hieß es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man unternehme "außerordentliche Anstrengungen", um etwa afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.
Guterres sagte, die Staatengemeinschaft müsse deutlich machen, dass "eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist". Dies könne nur "zu einem längeren Bürgerkrieg oder der kompletten Isolation Afghanistans führen". Die Vereinten Nationen hatten am Donnerstag vor einer humanitären Katastrophe gewarnt und die Nachbarn Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtlinge offenzuhalten.
Schallenberg appelliert an Taliban
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) forderte die Taliban auf, "ihr rücksichtsloses Vorgehen sofort zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren". In einer der APA in der Nacht auf Samstag übermittelten Stellungnahme ließ Schallenberg die radikal-islamistischen Milizen wissen: "Man kann nicht die eine Hand zum Dialog ausstrecken und mit der anderen weiter die Waffe umklammern." Österreich unterstütze die intensiven Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Friedensgespräche in Doha voranzubringen.
Die Taliban hatten in Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 geherrscht und eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchgesetzt. Dies wird nun erneut befürchtet. Es herrscht die Sorge, dass die in den vergangenen 20 Jahren mit westlicher Hilfe erzielten Fortschritte bei den Menschen- und Freiheitsrechten, insbesondere für Frauen, wieder verloren gehen und es zu einer Flüchtlingskrise kommt. Nach UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres damit 400.000. Das Welternährungsprogramm befürchtet eine Hungersnot.
"Fürchterliche Situation für die Zivilbevölkerung"
Die afghanische Politikerin und Ärztin Sima Samar zeigte sich in den Salzburger Nachrichten äußerst besorgt: "Die Situation ist beängstigend. Nicht nur für Frauen. Es ist eine fürchterliche Situation für die gesamte Zivilbevölkerung. Das öffentliche Leben stockt, die Menschen sind vorsichtig", schilderte die 64-Jährige, die von 2001 bis 2002 erste Ministerin für Frauenangelegenheiten in Afghanistan war, die aktuelle Situation.
"Wo immer die Taliban jetzt schon an der Macht sind, können Frauen das Haus nicht mehr ohne Männer verlassen. Mädchen können nicht mehr zur Schule gehen. Die Taliban haben sich nicht verändert", sagte Samar, die um mühsam errungene Fortschritte bei der Durchsetzung von Frauenrechten durch fürchtet. "Alles, was wir erreicht haben ist gefährdet", sagte Samar gegenüber der Zeitung und drückte ihre Hoffnung aus, "dass die internationale Gemeinschaft uns zur Seite steht".
Schockierende Videos aufgetaucht
Für Aufregung sorgten am Samstag Videos und Bilder von zwei mutmaßlichen Straftätern für Aufregung, die Berichten zufolge von militant-islamistischen Talibankämpfern an einem Strick durch die Stadt geführt wurden. In den in sozialen Netzwerken kursierenden Videos ist zu sehen, wie die Männer, deren Gesichter mit schwarzer Farbe bemalt sind, erst auf ein Podest gestellt und dann an einem Strick über eine Straße geführt werden.
Eine unabhängige Bestätigung für die Echtheit der Aufnahmen gab es zunächst nicht; zuerst hatte Bild berichtet. In einem Video, das nahe des Podests gefilmt wurden, rufen die Männer "Gott ist groß" und "Lang lebe das Islamische Emirat Afghanistan". Als "Islamisches Emirat Afghanistan" bezeichneten die Taliban das Land vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001.
In einem Video, das von einem Wohnhaus die Szene filmt, kommentiert ein Mann, dass die Taliban einen Dieb festgenommen hätten und sie nun in Richtung Mastufijat-Platz gehen würden. Bewohner der Stadt Herat im Westen des Landes bestätigten, dass die Aufnahmen in Herat gemacht wurden. Die Taliban hatten die drittgrößte Stadt des Landes am Donnerstag erobert. Ein bekannter afghanischer Journalist hatte die Bilder von dem Vorfall geteilt und kommentiert, dieser habe sich am Freitag nach dem Freitagsgebet zugetragen.
Zuletzt gab es vereinzelt Berichte, dass die Taliban in den von ihnen eroberten Gebieten wie während ihrer früheren Herrschaft von 1996 bis 2001 wieder unmenschliche und drakonische Strafen verhängen. Die New York Times berichtete Ende Juli, dass Taliban in einer Stadt nördlich von Lashkargah zwei Männer für alle sichtbar am Eingangstor zur Stadt gehängt hätten. Die Männer seien beschuldigt worden, Kinder entführt zu haben.