Meinung/Mein Tag

Wenn die Nachbarin dir (k)einen Liebesbrief schreibt oder die Mär von der anonymen Stadt

Bitte. Als unlängst ein Zettel vor der Wohnungstür lag, tauchten sofort Erinnerungen an die vergangene Nacht vor dem inneren Auge auf. Gleich war klar: Da ist wohl eine Entschuldigung fällig. Denn wie die Nachbarin in einer ihrem Alter entsprechenden Handschrift ausführlich festhielt, waren die hinter ihr liegenden Stunden alles – aber vor allem zu laut, zu lang und insgesamt einfach zu viel. Ein Besuch von lang nicht mehr gesehenen Freunden also, tatsächlich vielleicht etwas aus dem Ruder gelaufen, sollte jetzt und auf immer das Verhältnis zu meiner Nachbarin trüben? Niemals, dachte ich, schrieb eine Entschuldigung, packte sie in eine Schachtel Pralinen – und wurde einige Tage später von der um den Schlaf Gebrachten im Stiegenhaus belehrt, sie esse keine Süßigkeiten.

Um. Ok, in einer Stadt kann einem das irgendwie auch egal sein, solange sich kleine Scharmützel wie diese nicht zu ernsthaften Konflikten auswachsen. Als ein am Land sozialisierter Mensch ist es einem aber dann doch ein Anliegen, es sich mit den Menschen im engeren Umfeld gut zu stellen. Vermutlich auch deshalb, weil dort im Gegensatz zu Wien jeder jeden kennt und alles über den anderen weiß. Ersteres sicher, zweiteres (meistens) vermeintlich.

Ruhe. Denn bei einer Sache bin ich mir ziemlich sicher: Meine Nachbarn im Burgenland wussten nie so genau, was ich in der Nacht treibe, welche Dinge ich mit wem bespreche oder welche Musik ich höre – dem gemeinen Einfamilienhaus sei’s gedankt. Meine Nachbarin in Wien weiß das alles ziemlich sicher – und vermutlich noch viel mehr. Nix da also mit Anonymität der Stadt. Die gibt es in Wirklichkeit nämlich auch nur im öffentlichen Raum, aber nicht im eigenen Wohnbereich und schon gar nicht beim Gegenüber im Stiegenhaus.

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