Wo man die Kinder nicht erwachsen werden lässt
Von Mirad Odobašić
Meine damalige Freundin und heutige Frau traute ihren Ohren nicht. "Ich muss zum Südbahnhof. Meine Mama hat mir Suppe geschickt", sagte Željka während sie sich auf den mit Bierdosen und Knabberzeug vollbeladenen Tisch im Partyraum unseres Studentenheims stützte. Auf die Nachfrage, ob ihr der Bus aus der 500 Kilometer bzw. einer achtstündigen Fahrt entfernten bosnischen Heimat tatsächlich Mamas Suppe bringt, sagte die Studentin mit unbeirrter Selbstverständlichkeit: "Warum denn nicht?! Sie friert die selbstgemachte Hühnersuppe ein, verpackt sie in Tupperware und bringt das Päckchen dann zum Bus".
Nicht nur meine zu Besuch in Wien weilende Freundin, die schon mit 19 einen Job hatte und auf eigenen Füßen stand, war geschockt, als sie hörte, dass sich eine Mittzwanzigerin von Busfahrern mit eingefrorener Mama-Suppe beliefern lässt. Auch für mich war das eine Steigerung zu dem, was ich bis dato von den Mitbewohnern im Studentenheim gehört hatte. Dem einen schickte die Mutter per Bus Omas Burek, einer anderen ließen die Eltern kiloweise rohe Ćevapi aus dem eigenen Imbiss zukommen. Ein anderer fror stundenlang am Südbahnhof, während er auf den ewig verspäteten Bus wartete, in dessen Kofferraum Tantes Ajvar steckte. Für mich persönlich war ein Typ, der seiner Mutter seine schmutzige Wäsche von Wien mit nach Hause nach Bosnien schleppte, das Highlight.
Bloß in der Nähe bleiben
Immerhin haben sie den Schritt gewagt bzw. sich leisten können, der vielen Gleichaltrigen in ihrer Heimat so schwerfällt - sich vom Elternhaus loszureißen. Am Balkan ist das Nesthocker-Dasein ein Nationalsport. Das "Hotel-Mama" ist seit jeher eine Selbstverständlichkeit. Die Mama ist die Person, die einen bis in die Dreißiger und darüber hinaus ernährt, kleidet und wäscht.
Das Nesthocken stellt sich meist mit der Kindesheirat ein, allerdings suchen auch danach viele Nesthäckchen die Nähe zu Mama, die dann gefälligst nahtlos die Betreuung der Enkelkinder zu übernehmen hat. Damit dieser Teufelskreis erhalten bleibt, werden die Elternhäuser um einen Stock für die Kindesfamilien erweitert bzw. Wohnungen in der Nähe der Eltern gesucht. Die meisten fragen sich dann, warum die Mama einen Bandscheibenvorfall hat, erschöpft ist und eine Zigarette nach der anderen raucht. Warum bloß?
Armut ist keine Antwort
Ich frage mich seit mittlerweile drei Jahrzehnten, warum die Selbstständigkeit in dieser Region immer noch nicht groß geschrieben wird. Hängt das vielleicht mit der Geschichte der eigenen Heimatländer, die von Eroberungen und Belagerungen, also unselbstständigen Phasen gezeichnet ist, zusammen? Vermutlich auch. Unbestritten ist jedenfalls, dass die scheinbar ewigen wirtschaftlichen Missstände in den Balkan-Ländern einen Weg ins eigene Zuhause nicht einfach machen. Die mickrigen Löhne reichen oft nicht für die Miete aus, günstige Wohnkredite für Jungfamilien oder Familienbeihilfe (ja, Sie lesen richtig, in Ländern wie Serbien oder Bosnien wird keine Familienbeihilfe ausbezahlt) sind lediglich ein Fremdwort. Also, nein, der Weg weg von Zuhause ist keineswegs leicht.
Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass die Eltern am Balkan ihren Kindern das Von-Zuhause-Ausziehen nicht schmackhaft machen (wollen). Vor allem die Mütter verwöhnen ihre inzwischen erwachsenen Kinder. Sie kochen, putzen, räumen für sie auf - oder verschicken ihren Kindern über den halben Kontinent eingefrorene Suppen. Man hat oft das Gefühl, sie wollen nicht zulassen, dass ihre Kinder erwachsen werden.
Nicht selten habe ich Gespräche meiner Mutter mit ihren Freundinnen gelauscht, in denen relativiert wird, dass ein Mittdreißiger immer noch bei seiner Mama wohnt. "Was soll er tun, der Arme, er hat ja keinen Job", heißt es immer wieder. Ob er denn einen suche? "Ach, warum sollte er für paar hundert Euro arbeiten und dann in eine eigene Wohnung ziehen, wenn er daheim umsonst wohnen kann?", lautet dann stets die Gegenfrage. Fakt ist, dass die Region seit Jahren mit dem Exodus hadert, vor allem die Jungen zieht es in den Westen. Die Betriebe in Balkan-Ländern suchen händeringend nach Arbeitskräften. Vergeblich. Hier arbeitet man lieber nicht, als für wenig Geld zu arbeiten oder Gott bewahre, einen Beruf auszuüben, den man nicht erlernt hat.
Übrigens, mein ehemaliger Nachbar hat mit 43 endlich einen festen Job. Obwohl er einen der begehrtesten Berufe erlernt hat (LKW- und Busfahrer), ließ er sich reichlich Zeit, bis er sich dem Arbeitsleben widmete. Bis nun lebte er von der Pension seiner Mama, die etwa 200 Euro beträgt. Nun, wo er einen Job hat, braucht er kein Taschengeld mehr. Ausgezogen ist er aus Mamas Wohnung aber nicht. Und hat es nicht vor.