Kultur/Buch

Veronica Raimo: Die spinnen, die Römer

Er streite nicht, er mache Politik, sagt der Sohn, Stadtrat in Rom, zur Mutter. Diese insistiert: „Na schön, aber vertragt euch.“

Nicht nur der Sohn, auch die Polizei ist mit den Nerven am Ende. Jedes Mal, wenn die Mutter eines ihrer Kinder nicht sofort erreicht, meldet sie es als vermisst. (Zu Entschuldigung für den falschen Alarm bringt sie den Carabinieri dann Süßigkeiten.)

Wer glaubt, dass er eine anstrengende Mutter hat, muss Veronica Raimo lesen. Auch wer das nicht glaubt, sollte den neuen Roman der 44-jährigen Römerin lesen. Lakonisch und rasant (sie ist auch Drehbuchautorin), in einem Ton, der zwischen komisch und melancholisch changiert, erzählt sie in „Nichts davon ist wahr“ vom Aufwachsen in einer Familie, die ziemlich daneben ist.

Sport ist verboten, könnte ja was passieren (Erdrosseln beim Springschnurspringen, etwa). Die hysterische Mutter sieht insbesondere den Bruder dauernd sterben. Abgesehen davon hält sie ihn für ein Genie. Von der Tochter glaubt sie immerhin, dass sie als Kind gut malen konnte. Zwei ihrer Gemälde hängen seit mehr als 30 Jahren im elterlichen Vorzimmer. Die Erzählerin bringt es nicht übers Herz, den Eltern zu offenbaren, dass sie die Bilder damals von anderen, talentierteren Schulkindern gestohlen hat.

Natürlich ist auch der Vater plemplem. Chemiker, sieht überall nur Schadstoffe. Nach Tschernobyl gab’s für die Familie jahrelang nur vor dem 26. April 1986 abgefülltes Dosenessen. „Am Ende litten alle an akutem Vitaminmangel.“

Ob Veronica Raimo in diesem aus der Ich-Perspektive geschriebenen Roman tatsächlich über ihre Familie schreibt? „Je mehr man sich einem Geständnis annähert, desto mehr lügt man“, sagte sie unlängst in einem Interview. Im Roman heißt es an einer Stelle: „In meiner Familie hat jeder seine eigene Methode, die Erinnerung zum persönlichen Vorteil zu sabotieren. Schon immer haben wir die Wahrheit manipuliert, als wäre sie eine Stilübung (...).“

Schreiben über dysfunktionale Familien steht bei jungen Italienerinnen gerade hoch im Kurs. Claudia Durastanti begeisterte 2021 mit ihrer ergreifenden, zugleich schrägen Geschichte über das Aufwachsen mit gehörlosen Eltern, die sich weigern, Gebärdensprache zu verwenden und sich auch sonst recht ungewöhnlich benehmen (Die Fremde, Zsolnay).

Und Giulia Caminito erzählte 2022 in ihrer großartigen Vorstadt-Tristesse „Das Wasser des Sees“ (Wagenbach) vom Armsein im heutigen Italien und einer beinahe grotesk toughen Mutter.

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Bei Raimo überwiegt die Groteske gegenüber der Sozialkritik, der Humor ist stellenweise bedrohlich schwarz. Diese Kindheit am Fensterbrett hat etwas Beklemmendes. „Wir starrten in den Hof wie zwei in die Wohnung gesperrte Spitzel.“ Einmal werden die Geschwister Zeugen, wie Kinder eine Kröte zu Tode quälen. Alles, was sie tun können, ist, sich stumm an den Händen halten und hoffen, dass das Tier bald krepiert. Gefangen im Kinderzimmer entdecken sie das Böse. Sartres Geschlossene Gesellschaft zu Gast in der römischen Vorstadt.

Dass diese Kids als Erwachsene selbst nicht ganz normal werden, versteht sich von selbst. Ebenso, dass „Nichts davon ist Wahrheit“ vielleicht doch einen Hauch von Wahrheit erzählt.