Ballett-Skandal: "So geht man nicht mit Kindern um“
Von Thomas Trenkler
Es hat verdammt lange gedauert, bis die skandalösen Zustände in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper ans Tageslicht kamen. Denn bereits am 6. Dezember informierte die Kinder- und Jugendanwaltschaft die Direktion über anonym eingebrachte Vorwürfe – und seit damals wird versucht, mannigfaltige Kinderrechtsverletzungen aufzuklären.
Mit keinem einzigen Wort ging Staatsoperndirektor Dominique Meyer in seiner Jahrespressekonferenz am 3. April auf die Vorkommnisse ein. Dabei hätte es viel zu berichten gegeben. Etwa, dass bereits im Dezember eine Ballettlehrerin – sie unterrichtete die Mädchen der 8. Klasse – dienstfreigestellt wurde.
Exakt einen Tag nach der Pressekonferenz übermittelte Florian Klenk, Chefredakteur des Falter, dem Direktor ein Protokoll, in dem ein ehemaliger Schüler einem Lehrer der Ballettakademie sexuellen Missbrauch vorwirft. Klenk war bereits fünf Wochen zuvor auf Missstände aufmerksam gemacht worden – und er begann umfassend zu recherchieren.
Meyer rief den Lehrer zu sich. Dieser bestritt die Vorkommnisse, die sich vor sechs Jahren zugetragen hätten. Er hätte lediglich eingeräumt, dem Schüler mehrfach privat getroffen zu haben. Durch das Protokoll, das der ehemalige Schüler bestätigte, geriet Meyer unter Zugzwang: Er stellte den Lehrer dienstfrei und übermittelte der Staatsanwaltschaft Wien am Montag eine Sachverhaltsdarstellung. Die Ermittlungen wurden bereits aufgenommen.
Am Dienstagabend kündigte der Falter die Veröffentlichung seiner Recherchen unter dem Cover-Titel "Die Staatsopern-Tragödie" an – und Mittwochvormittag gab Meyer zusammen mit seinem Team und Christian Kircher, dem Chef der Bundestheaterholding, eine eilig einberufene Pressekonferenz.
Der Staatsoperndirektor wirkte betroffen, geradezu verstört. Er sprach noch leiser als sonst. "Ich bin traurig und böse. Ich kann nicht akzeptieren, dass Kinder in der Ballettschule leiden mussten."
Gnadenlose Lehrerin
Zudem kränkt es ihn natürlich, dass die nun publik gewordenen Missstände "einen Schleier auf meine Arbeit" werfen würden. Denn Meyer setzte sich dafür ein, dem Ballett in der Staatsoper einen größeren Stellenwert einzuräumen – mit Erfolg.
Er sehe insgesamt drei Hauptprobleme. Das erste: "Eine Gruppe von Schülerinnen wurde schlecht behandelt." Doch die Vorwürfe sind nicht neu. Es gab bereits vor eineinhalb Jahren Beschwerden, dass die besagte Lehrerin, eine Russin, zum Beispiel die Unterrichtsstunden gnadenlos überzogen habe. Sie sei zunächst mündlich und nach der erneuten Verschlechterung des Verhaltens schriftlich verwarnt worden. Die Entscheidung, die Lehrerin zu kündigen, wurde, wie erwähnt, im Dezember gefällt. "Ich stelle mir die Frage, ob ich das nicht hätte früher machen sollen", sagte Meyer. Deren Unterrichtsmethoden seien vielleicht vor 40 Jahren Standard gewesen, heute aber ein No-Go. Die Lehrerin habe nicht verstehen wollen, dass sich die Zeiten geändert haben.
"Wir haben zu spät reagiert, zu lange gewartet", meinte auch Simona Noja, seit 2010 Direktorin der Ballettakademie. Sie führte ins Treffen, dass die Lehrerin sehr gute Arbeit geleistet habe – und dass viele Schülerinnen gut über sie gesprochen hätten. Was Noja nicht erwähnte: Jolantha Seyfried, ihre Vorgängerin, hatte die Lehrerin bereits entfernt gehabt: "Weil ich sie sowohl methodisch als auch pädagogisch für untragbar hielt. Es gab zurecht zahlreiche Beschwerden von Eltern, und auf die habe ich reagiert." (Siehe unten) Und Simone Noja holte sie wieder an die Balettakademie zurück...
Auf KURIER-Nachfrage (im SchauTV-Interview) erklärte Meyer, dass er die Vorgeschichte nicht gekannt habe.
Als zweiten Punkt führt Meyer die bereits erwähnte sexuelle Belästigung durch einen Lehrer an. Von diesem hätte man vor der Falter-Recherche keine Kenntnis gehabt, so Meyer. "Ich finde es nicht akzeptabel, dass Lehrer die Schüler in ihrer eigenen Wohnung empfangen", so Meyer. Er wolle die Lehrer aber nicht unter Generalverdacht stellen, weil zwei (von 17) Fehler gemacht haben.
Körper im Spiegel
Das dritte Problemfeld hängt mit der Frage der Ernährung und des Körperbildes zusammen, das den Kindern, die sich permanent im Spiegel betrachten, vermittelt werde. Meyer gestand ein, dass es Fälle von Essstörung gebe. Doch die Angelegenheit sei kompliziert. Denn die meisten Schüler kommen aus dem Ausland – und essen im Internat: "Die österreichische Küche ist vielleicht nicht adaptiert für Hochleistungssport", so Meyer. Als erste Reaktion soll es nun obligatorische Schulungen in Ernährungskunde geben. Ab Ostern wird den Kindern zudem eine Psychologin zur Verfügung stehen.
Eigentlich existiert noch ein viertes Problem. Denn die Schüler der Ballettakademie besuchen gleichzeitig eine Mittelschule. Allerdings seien häufig Kinder, die an der Akademie nicht gut genug gewesen seien, von der Partnerschule abgemeldet worden. "Uns schien der Umgang mit den Schülern nicht korrekt", erklärt die Wiener Bildungsdirektion (vormals Stadtschulrat). "So geht man nicht mit Kindern um."
Meyer befürwortet die duale Ausbildung – und ist über die Vorkommnisse entsetzt. Die Kinder sollten die Schulausbildung in jedem Fall abschließen können.
Kinderarbeit und Drill
Darüber hinaus gibt es Punkt 5: Die Bildungsdirektion schaltete das Arbeitsinspektorat ein, weil Kinder über den Ausbildungsteil hinaus bei Aufführungen eingesetzt wurden. Also nicht nur Drill inklusive An-den-Haaren-Ziehen und Zwicken, sondern auch Ausbeutung?
"Wir wollen eine lückenlose Aufklärung von allem", beteuerte Meyer mehrfach, dem Jugendanwalt Ercan Nik Nafs ein "hohes Problembewusstsein" attestierte. Es gibt bereits eine Ombudsstelle, die man mit dem Verein "Möwe" initiiert hat.
Und der Direktor entschuldigte sich – nicht nur in der 8. Klasse, sondern im Interview mit dem KURIER auch bei allen ehemaligen Schülern, die zu leiden hatten. Sich von Noja zu trennen, zieht er aber nicht in Erwägung – auch wenn er wisse, dass man gerne Köpfe rollen sieht. "Wir wollen die Dinge bearbeiten und uns auf Fakten beziehen."
Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) beauftragte bereits Holding-Chef Kircher mit der Einrichtung einer Sonderkommission. "Ein Verhalten, wie das in den Vorwürfen angeprangerte, ist vollkommen inakzeptabel."
Die Ex-Leiterin der Ballettakademie erhebt schwere Vorwürfe
Brutalität und Demütigungen, Schläge und Tritte für Schüler und Schülerinnen schließt die ehemalige Primaballerina Jolantha Seyfried für ihre Zeit als Leiterin der Ballettschule an der Wiener Staatsoper bis 2010 zwar aus – obwohl schon zu dieser Zeit jene Lehrerin tätig war, die nun im Zentrum der Kritik steht, und sie diese entlassen hat.
Die ausgebildete Pädagogin, heute Professorin für Tanz an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, bestätigte allerdings, den immer schon hohen Zeitaufwand der Eleven von bis zu 70 Stunden pro Woche.
Viele Beschwerden
Seyfried habe die beschuldigte Tanzlehrerin, so sagt sie Mittwoch im Ö1-Mittagsjournal, bereits zu ihrer Zeit aus der Schule entfernt: "Weil ich sie sowohl methodisch als auch pädagogisch für untragbar hielt. Es gab zurecht zahlreiche Beschwerden von Eltern, und auf die habe ich reagiert."
Sie sei "erschüttert" darüber, sagt Seyfried, dass Simona Noja, aktuell geschäftsführende Leiterin der Ballettakademie, nun behauptet, sie hätte davon nichts gewusst:
"Sie hat sich damals bei Direktor Ioan Holender beschwert, dass ich diese tolle Person hinauswerfe. Ich musste mich dann rechtfertigen. Holender hat aber dann meine Argumentation und die Beschwerden der Eltern zur Kenntnis genommen."
Seyfried widerspricht auch der Wendung von Dominique Meyer, dass sich eine Lehrerin "schlecht benommen" habe, aber "immer sehr gute Ergebnisse erzielt" habe: "Ich frage mich: Welche Ergebnisse? Dass die Kinder magersüchtig waren? Dass sie ganz jung irre Sachen gemacht haben und sich nachher vielleicht verletzt haben? Ich frage mich, welche Ergebnisse da gestimmt haben."