Kolumnen

Barbara Kaufmann: Das dunkelgrüne Buch

Als ich 16 Jahre alt wurde, schenkte mir mein Vater ein dickes, liniertes Buch mit dunkelgrünem Einband. Es war schwer und sah bedeutend aus. So, als würde es nur darauf warten, dass jemand in ihm ein Manifest niederschreiben würde, das die Menschheit verändert. Noch heute liegt es in meinem Schreibtisch in der untersten Lade, gleich neben dem Stapel alter Fotos, matt, auf Papier.

„Für deine Gedanken“, hatte mein Vater auf die erste Seite des Buches geschrieben, „und für alles, was noch kommt.“ Ich liebte dieses Buch. Ich schleppte es ständig mit mir herum. In den Park, auf die Brücke am See, in jeden Urlaub nahm ich es mit. Ich kritzelte Figuren auf den Einband, schrieb Zitate von Ingeborg Bachmann darauf, beklebte ihn mit Stickern. Doch die Seiten darin blieben leer.

Nichts, was ich erlebte, was mir durch den Kopf ging, was mir passierte, schien bedeutsam genug, um es hinein zu schreiben.

Undramatisch

Mein erster Sommerjob als Bibliothekarin war zu monoton, mein Liebesleben zu ereignislos, der Umzug nach Wien zu pragmatisch. Die erste Zeit in der neuen Stadt voller naiver Wünsche, die mir vor mir selbst zu peinlich waren, um sie aufzuschreiben. Das Studium auf der Filmhochschule klang aufregender als es war. Meine erste wichtige Beziehung war gänzlich undramatisch. Meine ersten beruflichen Erfolge waren es auch. Dreharbeiten, Stipendien, selbst meine erste Preisverleihung fühlten sich nicht an wie in meiner Vorstellung. Nicht glamourös, aufregend und unvergesslich, wie ein Abend, an den man sich noch lange erinnern sollte. Sondern erschöpfend nach der vielen Arbeit, schal und langweilig.

Nichts, was ich erreicht hatte, was mir gelungen war, schien es wert, aufgeschrieben zu werden. Weil es so unendlich weit weg war von dem, was ich mir vorgestellt hatte. Von meinem Bild davon, wie es sich anfühlen müsste, wenn etwas wirklich Wichtiges in meinem Leben passieren würde. Etwas, das in einem Film vorkommen könnte. Etwas, das mir das Gefühl geben würde, endlich dort zu sein, wo ich immer hin wollte. Ohne genau zu wissen, wo das eigentlich sein sollte.

Leere Seiten

Und während all der Jahre, in denen ich vieles ausprobierte und oft ganz von vorne begann, in denen ich umzog, verlassen wurde, mich neu verliebte, heiratete, einen neuen Beruf erlernte, in denen ich Stiefmutter wurde und plötzlich eine Familie hatte, die ich mir so nie vorgestellt hatte, während des Unfalls meines Vaters, seiner Krankheit und den Filmen, die ich drehte und den unzähligen Texten, die ich schrieb, blieben die Seiten in dem dunkelgrünen Buch leer.

Selbst als mein Vater starb und ich in der Nacht nach dem Begräbnis allein in meinem Zimmer saß, das Buch hervor holte und seine Widmung las, immer und immer wieder, selbst da fielen mir kein Wort ein, kein erster Satz, nichts.

Gestern war ich schwimmen. Ich hab mich aufs Wasser gelegt und in die Sonne geblinzelt, so lang ich mich oben halten konnte. Danach fuhr ich nach Hause, holte das dunkelgrüne Buch aus der untersten Lade meines Schreibtischs und schrieb auf die erste Seite. „Heute bin ich 40 geworden und war schwimmen und was jetzt kommt, weiß ich nicht.“ Es ist kein guter erster Satz. Aber es ist ein Anfang. barbara.kaufmann