"Was bin ich doch für eine unwürdige Mutter!"
Von Barbara Beer
KURIER: Ihr Buch bietet einen anderen Blick auf das Muttersein und die angeblichen Mutterpflichten. Als deren oberste gilt: immer für sein Kind da sein. Ist das oberste Mutterpflicht?
Carole Fives: Nein, denn eine Mutter ist nicht nur Mutter. Eine Mutter ist zuerst einmal Frau, sie hat einen Beruf, soziale Interessen und Verpflichtungen und vielleicht eine Beziehung.
Aber oft erwartet man von einer Mutter, ausschließlich Muttertier und täglich 24 Stunden nur für das Kind da zu sein.
Ja, aber ich hoffe, dass sich das gerade ändert. Abgesehen davon, dass heute auch die Väter in die Pflicht genommen werden. Ständige Verfügbarkeit als Mutter zu verlangen, ist eine missbräuchliche Erwartung. Eine Mutter hat auch eine eigene Existenz als Mensch. Nur als Mutter wahrgenommen zu werden, bedingt auch einen sozialen Abstieg. Die Reduktion auf das Mutterdasein ist eine Entfremdung von sich selbst, das kann einen verrückt machen. Natürlich gibt es Frauen, die sich allein mit dieser Rolle wohlfühlen, das ist auch ok, aber ich halte das für eine Minderheit und jede Frau auf ihr Mutterdasein zu reduzieren wäre schlimm.
Die französische Autorin Carole Fives beschreibt in ihrem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman das Leben einer Alleinerzieherin, die sich mühsam Freiräume erkämpft. Abwesenheiten, die immer länger werden und schließlich zum Problem werden. Es sind „Kleine Fluchten“, die die Ausweglosigkeit ihrer Lage letztlich noch verschärfen. Unheimlich, authentisch und stellenweise auch komisch: Insbesondere dann, wenn Fives den Terror anderer tugendhafter Mütter aufs Korn nimmt.
Die Mutter eines siebenjährigen Sohnes erzählt in teils autobiographischen Passagen davon, wie schwierig der Weg als Alleinerzieherin sein kann. Die Einsamkeit, die Alleinerzieherinnen erleben, kennen übrigens auch Mütter in Beziehungen, sagt Fives. Die Kritiken in Frankreich waren zahlreich und großteils begeistert. Wütende Reaktionen habe sie vor allem von militanten Männergruppen erhalten.
Carole Fives: "Kleine Fluchten". Übersetzt von Anne Braun. Zsolnay Verlag. 142 Seiten. 19,60 Euro.
Für manche Frauen kann die angestrebte Mutterrolle auch eine Flucht sein. Etwa in schwierigen Zeiten im Job.
Ja, ein freiwilliger Verzicht auf alles andere, um sich allein auf das Mutterdasein zu konzentrieren. Von der Gesellschaft wird das nicht als Flucht wahrgenommen, aber man gibt dem Kind mit dieser Erwartung, von nun an der alleinige Lebenssinn zu sein, ganz schön viel Gepäck mit. Viele Frauen haben auch komplett falsche Vorstellungen davon, was sie erwartet. Die Mutterrolle wird nach wie vor dermaßen idealisiert, dass sie zur Falle werden kann.
Einerseits hat man doch das Gefühl, Rollenbilder sind längst aufgebrochen, junge Väter engagieren sich, die Gesellschaft emanzipiert sich von den alten Klischees. Andererseits gibt es insbesondere durch Social Media ganz schön viel neue Klischees. Ich denke da an die vielen Instagram-Mütter, die Kuchen backend, Gemüse pflanzend und Kinderbücher schreibend rund um die Uhr perfekt sind. Ganz schön viel Druck, finden Sie nicht? In den 1970er Jahren schien man in mancher Hinsicht weiter.
Ja, das sehe ich auch so. Ich glaube, unsere Generation (Carole Fives ist 49) hat sich im falschen Glauben gewiegt, dass jetzt alles in Ordnung ist. Wir arbeiten, haben die Pille, können abtreiben und dürfen ohnehin alles, was wir wollen. Das war natürlich ein falscher Glaube. Wir haben nicht wahrgenommen, dass das erst der Beginn eines langen, harten Weges war und dass viele Dinge, die erreicht schienen, noch sehr zarte Pflänzchen waren. Wir haben nicht genug gekämpft. Also bestimmt nicht so, wie unsere Mütter. Die Generation nach uns ist da hoffentlich stärker.
Im Alltag akzeptieren viele junge Frauen bestimmte Ungerechtigkeiten wohl nicht mehr. Gleichzeitig hat man doch das Gefühl, dass es einen gewissen Backlash gibt, insbesondere, was das Bild anbelangt, das viele von sich selbst zeigen.
Sie meinen das Bedürfnis vieler junger Frauen, sich sexy zu präsentieren?
Auch das. Aber auch das ganze perfekte Hausfrauen-Ding. Kochen, Backen, Gärtnern. Nichts dagegen, aber es ist schon auffällig.
Ja. Vor allem, weil es nicht mehr die Männer sind, die uns Frauen so etwas aufzwingen. Sondern die Frauen selbst. Mütter, Freundinnen oder Bilder auf Social Media. Wenn etwa bei Baby-Parties, die jetzt so im Trend sind, solche eingefahrenen Rollenbilder gefeiert werden. Das erzähle ich auch in meinem Buch. Nach zweitausend Jahren Patriarchat haben wir nichts Besseres zu tun, als uns Frauen gegenseitig zu erklären, wie wir perfekte Mutter, Liebhaberin, Hausfrau sein sollen. Es gibt Klischees über Frauen, die dermaßen festsitzen. Und das Rennen um die beste Mama ist eines davon. Anderseits habe ich in den sozialen Medien während des Lockdowns auch viele Videos von jungen Frauen gesehen, die dazu stehen, dass es nicht immer lustig ist, Mutter zu sein. Die davon berichten, wie verzweifelt sie manchmal sind. Ich halte das für sehr wichtig, dass es da eine Vielfalt von Bildern gibt. Die nicht nur die strahlende Mami, sondern auch den Baby-Blues zeigen.
Das Buch „Regretting motherhood“ der israelischen Soziologin Orna Donath hat 2015 ziemliche Wellen geschlagen. Es geht darin um Mütter, die ihre Rolle als Mutter negativ erleben. War das eine Inspiration für Sie?
Ja, ich habe dieses Buch sehr wichtig gefunden. Man muss es wagen, über diese Dinge zu sprechen.
Es gibt Fragen, die absolut tabu sind. Sie sind wie Gesetze. Eine Mutter hat immer da zu sein, hat ihr Kind immer grenzenlos zu lieben und ihre Mutterschaft stets als erfüllend zu erleben. Darüber zu sprechen, tut weh.
Absolut. Man ist als Mutter immer hin und hergerissen. Ich frage mich auch, wie mein Sohn meinen Roman später einmal empfinden wird. Eine Journalistin hat mich kontaktiert, dass sie eine Art „Regretting motherhood“ auf Französisch machen will. Sie wollte zunächst eine Fernsehdoku drüber machen, aber keine Frau wollte da mitmachen. Niemand stellt sich hin und sagt: Ich bereue es, Mutter zu sein. Aber es stimmt, dass es sehr schwierige Momente gibt, es ist komplex und die Komplexität muss man zeigen. Ich glaube, ein Roman hat die Möglichkeit, das tun.
Auf Deutsch gibt es den Ausdruck „Rabenmutter“, der eine schlechte Mutter bezeichnen soll. Was unter anderem deshalb absurd ist, weil Raben ziemlich gute Eltern sind. Gibt es auf Französisch ein Wort dafür?
Ja. „Mère indigne“, „unwürdige Mutter“. Das hört man ununterbrochen. „Oh! Ich hab' vergessen, meine Kinder rechtzeitig von der Schule abzuholen! Was bin ich doch für eine unwürdige Mutter!“